JOAN DIDION: Das weiße Album
Die amerikanische Autorin Joan Didion hat es wie keine andere geschafft, hinter die Geheimnisse unserer Zeit zu schauen. Das Geheimnis ihrer eigenen Anziehungskraft bleibt das größte von allen.
Der wichtigste Satz, den Joan Didion je geschrieben hat, oder jedenfalls der Satz, mit dem sie in Erinnerung bleiben wird, fällt gleich auf der ersten Seite. Es ist sogar der erste Satz dieses Buchs. Das Buch heißt „Das weiße Album“, erschienen 1979: eine Sammlung von Reportagen und Texten aus Magazinen und Zeitungen, die zum Teil schon mehr als zehn Jahre alt waren, als sie hier noch einmal gebündelt erschienen, und die größtenteils aus einer Zeit stammten, Ende der Sechzigerjahre, als Joan Didion zum Star des amerikanischen „New Journalism“ aufstieg.
Mit Texten über die gesellschaftliche Umbruchsperiode der Sechziger- und Siebzigerjahre, mit Porträts von Prominenten, Kriminalgeschichten und Szenen aus der kalifornischen Lokalpolitik, aus denen Didion das größere Ganze ableiten und in ein anderes, tieferes Licht setzen konnte. „Das weiße Album“ versammelte diese Texte also, verdichtete sie und machte ihre Wucht damit umso größer. Und der eine Satz, mit dem das Buch begann und Didions Sonderstatus für die Ewigkeit festschrieb, lautet:
„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“
Es ist der Signal-Satz von Joan Didion, ihr „Nennt mich Ismael“, ihr „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, stilistisch wie inhaltlich. Es ist die Erkennungsmelodie ihrer verführerisch mürben, melancholischen Spätnachmittags-auf-einer-amerikanischen-Veranda-Prosa. Es ist der Satz, der seither auch immer wieder als Motto vor den ersten Sätzen anderer Bücher anderer Autorinnen und Autoren gestanden hat: als Referenz. Als Rückversicherung. Als Freibrief, überhaupt erzählen zu dürfen, weil das allein, „Erzählen“, ja offenbar schon lebenserhaltend und gemeinschaftsbildend war, Joan Didion hat’s doch gesagt.
„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“: Das ist eine Beschwörungsformel, ein Legitimationsschreiben, ein Facebookprofil-Superhit. Man findet diesen Satz auf hundert Millionen Google-Seiten zitiert – und auch in anderen Reportageklassikern der amerikanischen Literatur, die weit entfernt von Joan Didions Heimat Kalifornien spielen: im dramatischen Mount-Everest-Bergsteigerdrama „In eisigen Höhen“ von Jon Krakauer beispielsweise. „We tell ourselves stories in order to live“: Dieser Satz, könnte man sagen, ist der Mount Everest des „New Journalism“.
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