Ulla Hahn: „Tage in Vitopia“
„Tage in Vitopia“: Auf Klimawandel und Massentierhaltung reagiert Ulla Hahn mit einem herrlich utopischen Roman, der sich als Buch der Stunde liest.
Er ist laut, er ist kompromisslos, und er ist gänzlich unverblümt: Ulla Hans neuer Roman „Tage in Vitopia“, in dem sich all die vom Kapitalismus ausgebeuteten Tiere Gehör verschaffen. So klagen etwa die Schweine aus der Mast ihre Peiniger als „Mörder“, „Schlächter“, „Kinderfresser“ an, derweil spricht ein Huhn von der „Legehölle“, bevor zuletzt die Vierbeiner aus dem Versuchslabor mit grauenhaften Geschichten über Katzen mit implantierten Elektroden und Goldfischen mit Stiften im Hirn aufwarten.
Artikulieren können sie ihre Belange auf einem speziesübergreifenden Kongress am Ende des Regenbogens. Gemeinsam mit den Menschen kommen sie im „Paradiesgarten 2.0“, genauer verortet im Amphitheater Epidauros, zusammen und haben sich nicht mehr und nicht weniger als die Rettung der Welt auf die Fahnen geschrieben. Klimaneutralität und eine alle Arten einbeziehende Ordnung des Respekts gehören zu den hehren Zielen eines äußerst bunten Konvents, in dem nicht nur humane mit animalen Lebewesen ins demokratische Gespräch gelangen, sondern ebenfalls die Lebenden mit den Toten sowie reale und mythischen Persönlichkeiten. Noah trifft auf die Mutter der Natur, Gaia, und den Wagnerschen Gott Wotan, ebenso mit von der Partie sind Figuren wie Immanuel Kant, Heinrich von Kleist, Franz von Assisi oder Tommaso Campanella und Francis Bacon.
Gerade die Werke von letzteren, also „Der Sonnenstaat“ (1623) und „Nova Atlantis“ (1627), verdeutlichen, in welche Tradition sich die promovierte Germanistin und Bestsellerautorin mit ihrem schillernden Gedankenexperiment einschreibt. Aus der Idee, innerhalb eines literarischen Rahmens ideale Gesellschaften zu entwerfen, ist mit dem utopischen Roman eine ganz eigene Gattung entstanden. Hier werden zumeist vorbildliche Staaten skizziert – beispielhaft in Klassikern von Thomas Morus bis hin zu H. G. Wells –, stilistisch ist das häufig eher schlicht.
Ganz anders als in ihrer virtuosen Lyrik hat sich auch Ulla Hahn in „Tage in Vitopia“ für diese einfache Art der Darstellung entschieden. Auf ausgefeilte Metaphern und elegante Satzstrukturen zu verzichten, ist bei ihr sicherlich dem Ansinnen geschuldet, einen für viele verständlichen, literarischen Aktionsplan zu verfassen – zumal sie wie ihre literarischen Vorläufer immer wieder ihre Leserinnen und Leser direkt anspricht.
Darüber hinaus dürfte der Verzicht erzähltechnische Gründe haben. Denn geschildert wird uns der Kongress aus der Sicht des Eichhörnchens Wendelin, das natürlich nicht wie seine zweibeinigen Kompagnons reden soll. Da es erst gar nicht mehr zwischen den Spezies trennt, erfindet es daher – ganz im Sinne eines allgemeinen Gleichheitsansatzes – den Begriff der „Humanimals“.
Ulla Hahn: Tage in Vitopia. Roman.Penguin, München 2022. 256 Seiten, 24 Euro.
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https://www.fr.de/kultur/literatur/ulla-...s-91815834.html
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