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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! 

#1 von Sirius , 13.10.2022 16:40

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! 

Die Dolmetscherin Shumona Sinha hat mit ihrem zornigen Roman über die Arbeit in einer Asylbehörde den Internationalen Literaturpreis gewonnen

Die Sozialfigur des Dolmetschers ist eigentlich eine großartige Chiffre für kommunikatives Handeln, für moderne Kompromissbereitschaft, für die Abwendung von Gewalt. Der Roman Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha verhandelt all diese Themen. Die Autorin, 1973 in Kalkutta geboren und 2001 nach Frankreich gezogen, hat selbst als Dolmetscherin für Bengalisch in einer französischen Asylbehörde gearbeitet. Im Roman verarbeitet sie diese Erfahrung, nachdem er erschien, wurde sie gefeuert.

Über die Biografie der indischstämmigen Ich-Erzählerin erfahren wir fast nichts. Implizit wird jedoch deutlich, dass ihre Kindheit und Jugend in Indien traumatisierend gewesen sind. Mit Lucia – der weißen, blonden Arbeitskollegin – identifiziert sie sich stark. Auch körperlich fühlt sie sich zu ihr hingezogen. Die starke Identifikation mit dem weißen Europa führt zu Aggressionen gegen Asylsuchende und Migranten. Einige Passagen ihres inneren Monologs können für rassistisch gehalten werden. So beobachtet sie, wie Menschen in dunkler Haut irgendwo „herumlungern“. Die Asylsuchenden erinnern sie „an Dreck, schmutziges Wasser“. Ein Landsmann spricht sie vor der Behörde an und fragt sie, was er in den Verhören sagen soll. Sie verweigert ihm die Hilfe. Die Anwälte der Asylsuchenden werfen ihr vor, dass sie in den Gerichtsverhandlungen zu sehr die Unsicherheit der Asylsuchenden zum Ausdruck bringt. Die Erwartung, dass sie ihren Landsleuten eine besondere Solidarität erweisen soll, irritiert sie.
Faszinierend ist das Verhältnis der Protagonistin zur Sprache. Sie identifiziert sich mit der Sprache ihrer neuen Heimat. Darin kann sie Erinnerungen an ihr alten Leben auf Distanz halten. Entsprechendes gilt für die Autorin. Sie will nicht auf Englisch schreiben, sagt sie in einem Interview. Sinha betrachtet die Hegemonie der englischen Sprache in Indien als ein Erbe des britischen Kolonialismus. Von diesem Erbe will sich die Autorin befreien. Die französische Sprache hilft ihr dabei.

Die Protagonistin hat ein hochsensibles Gehör; im Klang verschiedener Sprachen erkennt sie die verschiedenen Erfahrungswelten wieder, in der die Sprachen geprägt worden sind. Die „Sprache der verglasten Büros“ steht der „flehenden Sprache, der Illegalen-Sprache, der Ghetto-Sprache“ gegenüber. Was heißt das für ihren Beruf? Es ist keine neutrale, rein technische Aufgabe. Es bedeutet, sich auf einem schmalen Grad zwischen zwei Wertesystemen und Erfahrungshorizonten zu bewegen, die schwer miteinander kompatibel sind. Mithilfe von Metaphern versucht die Autorin, diese Vermittlungsprobleme zu beschreiben: „Wir hatten eine Sprache, eine gemeinsame Sprache, aber es war, als schrie ich aus dem neunten Stock zu einem Passanten. Manchmal hatte ich den Eindruck, ihnen meine Wörter wie heißes Wasser über die fassungslosen Köpfe zu schütten.“
Natürlich ist der Roman durch die Flüchtlingsthematik gerade enorm aktuell. Beschrieben wird, wie sich illegale Einwanderer für die Verhöre neue Lebensgeschichten erfinden. Sie sind jedoch schlecht vorbereitet. Angeblich verfolgte Christen kennen die Grundsätze des christlichen Glaubens nicht. Viele geben sich als Propagandasekretäre aus, da die Schlepperbanden das so empfehlen. Parteipolitische Auseinandersetzungen können sie aber nicht darlegen.

Aus stark patriarchalisch geprägten Gesellschaften stammend sind die Asylsuchenden in den Verhören mit zwei Frauen konfrontiert, die nun über ihr Schicksal entscheiden können. Auch was dies bedeutet, versucht der Roman auszuloten. Und nicht zuletzt ist der literaturhistorische Rahmen interessant, die Anspielungen auf Charles Baudelaire zum Beispiel. Baudelaire hat Schriftsteller wie Victor Hugo für seine romantisierenden Darstellungen von Proletariern angegriffen. Dagegen schrieb Baudelaire in einem mitunter snobistischen Ton, hinter dem sich aber eine hohe zeitdiagnostische Sensibilität verbirgt. So fügen sich auch die rassistischen Äußerungen von Sinhas Ich-Erzählerin in ein kohärentes Bild davon, was es bedeutet, Migrantin im heutigen Europa zu sein. Ihr Zorn trifft den Nerv dieser Zeit.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/lukaslatz...er-auf-den-kopf


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Sirius
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