Neoliberalismus: Spartipps für die Armen, Bewunderung für die Reichen
Armutsbetroffen Die Regeln zu lasch, die Leistungen zu großzügig, und muss es ein Buch für 15 Euro sein? Geht es ums Geld, neigen sich Kritik, ungebetene Ratschläge und neidische Blicke gern nach unten.
Ich bin armutsbetroffen und twittere über mein Leben in Armut unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen. Dafür werde ich auf verschiedenste Weise angefeindet. Ich solle mich schämen, als Bürgergeldbezieherin mehr Geld zu verlangen, weil der Regelsatz zu niedrig bemessen ist. Niemand schreibt einem Spitzenmanager, der ein paar Tausend Euro mehr verdient in der Krise, dass er sich schämen soll, so viel Gewinn zu machen. Der gesellschaftliche Blick geht nach unten, nicht nach oben. Maskendeals, Cum-Ex, Lobbyismus – irgendwie, so wirkt es, kommen Menschen mit viel Geld immer glimpflich davon. Geflüchtete, Niedriglöhner, die „arbeitende Mitte“, Bürgergeldempfänger, sie alle werden politisch gegeneinander instrumentalisiert.
Die menschenverachtende „Bürgergelddebatte“ vor allem von Seiten der Union hat gezeigt, dass im Diskurs ein klassistisches Weltbild vorherrscht. Und das wird gut befeuert, denn wo wäre Deutschland ohne seine Armen, die immer dann wichtig sind, wenn es darum geht, PR-Fotos für Politiker zu machen? Söder bei der Tafel, Scholz bei der Tafel. Wieso ist Herr Linder da noch nicht gewesen? Oh, ich vergaß: falsches Klientel! Kein verwertbares Humankapital.
Mit Armutsbetroffenen kann man kein Geld machen. Gerade in einer Gesellschaft, die auf Leistung aus ist, ist Erwerbslosigkeit oder Armut das absolute Versagen. Anstatt mit Verständnis, Solidarität und Mitgefühl zu reagieren, bekommen Armutsbetroffene Vorwürfe. Es kann ja nicht sein, dass in einem so reichen Land Leute arm sind. Das passt nicht in das Weltbild der Mehrverdiener, es muss selbstverschuldet sein. Anstatt sich mit den Ursachen und Hintergründen der politisch gewollten Armut zu beschäftigen, werden wir beschimpft, verschwiegen oder ignoriert. Ich habe ein wunderbares Interview des Armutsforschers Butterwege gefunden, der es hervorragend in Worte fasst:
„Leider ist in Deutschland der Sozialneid nach unten sehr ausgeprägt. Angehörige der unteren Mittelschicht glauben oft, die Armen würden vom Staat gepampert. Dabei wäre es gerade für die Mittelschicht logischer, nach oben zu schauen“, sagt Butterwege. Auch werde Leistung mit ökonomischem Erfolg gleichgesetzt. Oder „verwechselt“, wie er sagt. Und auch das ist wichtig: „Wer reich ist, ist natürlich politisch einflussreich und tut alles dafür, um seine Privilegien auf gesetzlichem Weg zu sichern.“
Ich kann und werde weiter aufklären über Armut in Deutschland. Das Wissen und die Hintergründe von Armut sind komplex, aber es lohnt sich, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Je mehr Fakten und Zusammenhänge bekannt sind, desto eher hoffe ich, dass ich nicht mehr für einen Buchkauf für 15 Euro oder eine FP2 Maske mit Motiv für einen Euro als Armutsbetroffene kritisiert werde.
Ich habe mir ein Buch mit dem Titel: „Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen“ gekauft. Ich habe in einem Tweet auf die lächerliche Summe von 1,81 Euro hingewiesen, die mir pro Monat für Bildung im Bürgergeldsatz zur Verfügung steht. Deshalb musste ich den restlichen Betrag von meinem Satz für Bekleidung und Schuhe nehmen, um das Buch zu bezahlen. Sie haben richtig gelesen, die Summe, die mir als Bürgergeldbezieherin für Bildung im Monat zusteht, sind 1,81 Euro! Für ein Buch von 15 Euro müsste ich über ein Jahr sparen!
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https://www.freitag.de/autoren/janina-lu...alen-weltbildes
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