Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945
Marcel Reich-Ranicki galt als knurriger Großkritiker. Ein neuer Sammelband zeigt auch andere Seiten
Als er im Jahre 1962 gebeten wurde, einen Artikel über mündliche Literaturkritik zu schreiben, öffnete Marcel Reich-Ranicki sein Kritikernähkästchen: Martin Walser, der gefeierte Autor des zwei Jahre zuvor erschienenen Romans Halbzeit, habe ihn und alle anderen Literaturkritiker kürzlich auf einer Tagung der Gruppe 47 als „Lumpenhunde“ bezeichnet. Mit spürbarem Behagen führte Reich-Ranicki anschließend die Ahnenreihe auf, in der Walser sich damit bewegte: Für Goethe waren Rezensenten Hunde, die man schleunigst totschlagen sollte. Charles Dickens nannte den prototypischen Kritiker eine mit Pygmäenpfeilen bewaffnete Laus mit der Gestalt eines Menschen und dem Herz eines Teufels. Und Leo Tolstoi meinte schlicht, dass jemand, der Kritiken schreibe, nicht ganz normal sein könne.
Nun bringt die Literaturkritik mit sich, dass man, zumindest wenn man sie ernsthaft betreibt, nicht zum Liebling aller Autorinnen und Autoren werden kann. Deswegen nahm Reich-Ranicki den „militärisch-knappen“ Ausfall Walsers als Kompliment. Und an derartigen Komplimenten sollte es auch später nicht fehlen, weshalb der Lumpenhund heute längst in der Hall of Fame des Literaturbetriebs angekommen ist. An seinem Denkmal wird derweil weiter gefeilt. Pünktlich zu seinem zweiten Todestag erscheint unter dem Titel Meine deutsche Literatur seit 1945 ein Sammelband mit Texten von Reich-Ranicki.
Darin versammelt: wunderbare Kritikerprosa, brutale Belesenheit, einige Fehlurteile, wenige Irrtümer und reichlich Selbstverliebtheit. Genug also, damit das Lesen zum Genuss wird. Wer bei dem Namen Reich-Ranicki zuerst an den Angry Old Man aus dem Literarischen Quartett denkt, sollte zunächst den einleitenden Essay des Herausgebers Thomas Anz lesen. Dieser wirft darin nämlich ein Schlaglicht auf den „jungen Reich-Ranicki“, der in den abgedruckten Besprechungen kaum noch vorkommt, weil der 1920 als Marceli Reich geborene Kritiker nach dem Krieg zunächst in Warschau lebte und auf Polnisch schrieb. Schon sein erster Aufsatz in deutscher Sprache, erschienen 1953 in Sinn und Form, der Zeitschrift der Ostberliner Akademie der Künste, hatte es in sich: Johannes R. Becher, wenig später erster DDR-Kulturminister, sei es wie Bert Brecht in seiner Jugend nicht gelungen, sich „der Versuchung des Expressionismus zu widersetzen“, der „so fatal auf die damals entstehende deutsche revolutionäre Dichtung einwirkte“ und der Arbeiterklasse unverständlich geblieben sei. Arbeiterklasse? Revolutionäre Dichtung? Das aus der Feder des Literaturkritikers, der jahrelang das Feuilleton der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete? Oh ja! Noch 1963, als er schon in der Bundesrepublik lebte, bekannte sich Reich-Ranicki nämlich zu einer engagierten Literatur – nicht ohne später festzustellen, dass die Politisierung der Literatur nach 1968 nicht die Politik verändert, sondern die Literatur ruiniert habe. Andererseits zeigt die Äußerung aber auch bereits jene Kritikereigenschaften Reich-Ranickis, die ihm zeitlebens zugeschrieben werden sollten: Er war furchtlos und eigensinnig, sein Urteil konnte mitunter erbarmungslos sein. Beispielweise als er 1995 Günter Grass’ Roman Ein weites Feld auf dem Spiegel-Cover mit einem genervt-erschöpften Gesichtsausdruck zerriss. Das war die passende Bebilderung seiner Rezension, die in sanfter Briefprosa daher kam, aber gleichzeitig vollkommen vernichtend klang. Der Lumpenhund riss seine Opfer eben auch, gerade wenn es sich, wie bei Grass und Walser, nicht um hilflose Schafe handelte.
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