„Zunehmend“: Ein Wort, das Dynamik bringt und Informationen entwertet
Ein allgegenwärtiges Wort, das sich häufigen Gebrauchs erfreut und dabei nicht immer richtig angewendet wird. Ein paar Gedanken zum Begriff „zunehmend“.
„Korruption: Die Polizei ermittelt zunehmend mehr Straftaten“, „Deutsche fühlen sich zunehmend ohnmächtiger“, „Ostdeutsche Unternehmen: Stimmung wird zunehmend schlechter“ und „Chartanalyse DAX: Die Luft wird zunehmend dünner“. Egal welches Thema, immer mehr Schlagzeilen handeln vom Zunehmen. „Deutsche fühlen sich zunehmend von ihrer Freizeit gestresst“, „Reisebranche lässt Corona-Krise zunehmend hinter sich“, „Deutsche Konzerne ziehen sich zunehmend aus Russland zurück“, „Neue Drogen zunehmend beliebter“, „Deutsche Städte verlieren zunehmend Einwohner an Umland“. Kaum ein Nachrichtengeschehen kommt noch ohne „zunehmend“ aus.
Was ist dieses „zunehmend“ auch für ein Zauberwort, hext Dynamik in jede Schlagzeile. Und weil man es mittlerweile gewöhnt ist, Meldungen mit solcher Dynamik aufzumotzen, werden auch Dynamiken noch einmal dynamisiert. „Kamikaze-Drohnen gewinnen an Bedeutung“ reicht nicht, sie müssen zunehmend an Bedeutung gewinnen. „Innenstädte füllen sich“ ist nicht des Geschehens genug, sie müssen sich schon zunehmend füllen. Der Tourismus in Deutschland erholt sich nicht bloß, nein, er erholt sich sogar zunehmend.
Das Wort ist so nah bei der Hand, dass selbst die eigentlich naheliegende Form eine Steigerung auszudrücken, links liegen bleibt. So heißt es etwa nicht „Die Märkte werden nervöser“, sondern „Die Märkte werden zunehmend nervös“. Zum Vergleich: „Innenstädte füllen sich“, „Märkte werden nervöser“, „Kamikaze-Drohnen gewinnen an Bedeutung“, „Tourismus erholt sich“, was wären dies für schöne schlanke Sätze, hätte man sie nicht aufs Zunehmen verpflichtet.
Das „zunehmend“ fügt Dynamik hinzu, wo man sie gerade braucht, und erspart dabei die Arbeit, ein Adjektiv zu steigern oder gar nach einem Verb zu suchen, dass die Aufgabe erledigt. Der Zunahme geht die Faulheit voraus. Außerdem erzeugt das Partizip Präsens den Eindruck, dass man die Entwicklung in diesem Moment betrachtet, ihre Fortsetzung in die Zukunft beobachtet. Wir werden anscheinend informiert über eine Entwicklung, die nicht bloß in der Vergangenheit liegt (wie es eigentlich der Fall ist), sondern die immer weiterläuft. Wissen wir denn, ob „Fitnesstraining zunehmend gefragt“ ist, oder wissen wir nicht viel mehr bloß, dass die Nachfrage nach Fitnesstraining in der jüngeren Vergangenheit zugenommen hat, ohne dass wir wissen, wie es sich in Gegenwart und Zukunft verhält? Ein junger Familienvater, der wenig schläft und dem Sport entsagt hat, sagt uns doch auch: „Ich habe zugenommen“ und nicht etwa „Ich nehme zu“. Sein „Ich nehme ab“ hingegen ist eine Aussage über die Gegenwart und ein vages Versprechen für die Zukunft, das wir mit der nötigen Skepsis betrachten.
Indem man mit einem „zunehmend“ die Dynamik betont, kann man aber auch von den Zuständen ablenken. „Juden im Land fühlen sich zunehmend bedroht“ klingt, als wäre da noch viel Luft nach oben, als sei die Problemschwelle noch nicht erreicht, so, wie ein Arzt sagt: „Wir beobachten das“, wenn er noch keinen Anlass zum Handeln sieht. „Juden im Land fühlen sich bedroht“ ist die eigentliche Meldung. Und jenen, die wortwörtlich behaupten, sie wollen sich „gegen den zunehmenden Antisemitismus im Land einsetzen“, sollte man dringend die Frage stellen, ob sie sich auch gegen den Antisemitismus einsetzen wollen, der nicht zunimmt, sondern so stark bleibt, wie er war und ist.
„Zunehmend“ kann also einen Sachverhalt verharmlosen und abschwächen, indem suggeriert, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. In ähnlicher Weise kann es einer steilen These alle gewichtige Bedeutsamkeit rauben. „Wärmepumpe verdrängt Gasheizung“, was wäre das für eine Revolution. Tatsächlich lautet die Schlagzeile jedoch „Wärmepumpe verdrängt zunehmend Gasheizung“ und man ahnt, wie wenig das Wort „verdrängen“ von seiner ursprünglichen Bedeutung behalten durfte.
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