Die zwei Parallelen
Es gingen zwei Parallelen
ins Endlose hinaus,
zwei kerzengerade Seelen
und aus solidem Haus.
Sie wollten sich nicht schneiden
bis an ihr seliges Grab:
das war nun einmal der beiden
geheimer Stolz und Stab.
Doch als sie zehn Lichtjahre
neben sich hin,
da wards dem einsamen Paare
nicht irdisch mehr zu Sinn.
Warn sie noch Parallelen?
Sie wusstens selber nicht,
sie flossen nur wie zwei Seelen
zusammen durch ewiges Licht.
Das ewige Licht durchdrang sie,
da wurden sie eins in ihm;
die Ewigkeit verschlang sie,
als wie zwei Seraphin.
Christian Morgenstern
Dieses „Liebesgedicht“ erschien im Nachlaßband Palma Kunkel, 1916
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