Kalte Welt

Inzwischen bedarf jeder Genuss einer peniblen moralischen Prüfung. Gummibärchen fallen da glatt durch.
Leider hat das Gummibärchen seine Unschuld völlig verloren. Mit der Aussicht auf eine Hand voll bunter Bärchen konnten Eltern ihre Kinder zumindest dazu bringen, vor der Kasse im Supermarkt am Quengel-Regal nicht lautstark nach noch mehr Zucker zu schreien. Doch hinter jeder goldenen Tüte lauert eine abgründige Wahrheit. Was Kinder froh macht, kommt aus einer Fabrik, in der ausgelassene Schlachtabfälle mit künstlichen Farb- und Geschmacksstoffen versetzt werden. Wer sich den Herstellungsprozess vergegenwärtigt, dem wird so übel, als hätte er zwei Packungen hintereinander weggefuttert. Noch dazu hat der Preis einer Tüte sich seit meiner Kindheit verdoppelt, während ihr Inhalt sich um ein Drittel reduziert hat. So eine Frechheit. Ganz bestimmt ist das mit den gestiegenen Preisen von Fleischresten zu erklären.

Inzwischen bedarf dank unserer durchindustrialisierten und -globalisierten Welt beinahe jeder sinnliche Genuss einer eingehenden moralischen Prüfung. Fast immer lautet das Urteil: Durchgefallen. Darf es ein Stückchen Schokolade sein? Denken Sie an die ausgebeuten Kakaobauern! Urlaub auf Fuerteventura? Sie Klimasünder! Wie, Sie lesen die Zeitung noch gedruckt, sind Sie sicher, dass Sie so viel Altpapier verantworten können?
Bald werde ich Vater. Dann stellt sich mir die Frage: Gummibärchen, ja oder nein? Mull- oder Wegwerfwindeln? Lastenrad oder Auto? Als auf dem Land lebender Papa führt wohl kein Weg daran vorbei. Dann werde ich selbst in einer motorisierten Blechkiste hocken und mit 100 wandernde Kröten auf der Landstraße plattwalzen. Obwohl ich Autos verabscheue, weil sie unsere Städte vollqualmen, sie in Betonwüsten verwandeln und jede Straßenüberquerung zu Fuß potenziell tödlich verlaufen kann.

Es braucht einen großen Batzen Ignoranz, um heutzutage guten Gewissens existieren zu können. Kann ich meinem Kind diese Welt überhaupt zumuten? Die Kipppunkte des Klimawandels haben wir wohl gerade überschritten. Krieg im Osten, erstarkender Totalitarismus auch im Westen und Deutschland bekommt einen Kanzler mit Haarinsel, bei deren Anblick die erste Assoziation Privatflüge nach Sylt sind. Mich tröstet der Gedanke: Jede Zeit hatte ihre Tücken. Keine Reproduktion ist auch keine Lösung. Und es braucht Mut zur Hoffnung: Wir müssen es eben besser machen.
Mein Kind, jetzt hast du es noch gut. Die Welt nimmst du wahr nur durch den schützenden Schild von Mamas Bauch. Als Licht, als Schall, als Berührung. Noch ist deine Welt so anders als die unsere. Wir warten auf dich.

https://www.fr.de/kultur/timesmager/waru...s-93658716.html

Meine Güte. Sind wir überspannt. Ich ess trotzdem Gummibärchen.

Jörn