Wo ist mein Geld?
Grete Filbert (82) gewann in der Lotterie zehntausend Euro. Sie war eh nicht vermögend, lebte nach dem Ableben ihres Mannes allein in einem kleinen Häuschen, auf das ihre Feiertagskinder schon seit Jahren mehr als ein Auge geworfen hatten. „Feiertagskinder“ nannte sie ihre Tochter und die beiden Söhne, die sie nur an den Festtagen abwechselnd besuchten, immer mit der unverhohlenen Absicht, Grete ein Altenheim schmackhaft zu machen, worauf diese immer sehr zornig wurde.
Grete war zwar etwas naiv und weltfremd, aber dass sie für ihre Kinder nur noch ein widerspenstiges Ärgernis war, ließ sie wortkarg und abweisend werden. Und unter keinen Umständen sollten diese vorlauten Gören erfahren, dass ihre Mutter plötzlich über einen ansehnlichen Notgroschen verfügte.
Und so ging Grete Filbert an einem Donnerstag zu ihrer Sparkasse.
Etwas gebückt, aber noch mit einem forschen Schritt, die schwarze Handtasche fest unter dem Arm, ging sie zu einem der freien Schalter, wo ein junger Mann mit schwarz gegeltem Haar sie bereits freundlich erwartete.
„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
Grete mochte ihn nicht. Diese schlanken gepflegten Finger, die wohl noch nie einen Garten umgegraben hatten, dieses dämliche Lächeln, das ihr ein Gefühl der Unsicherheit gab, dieser allwissende überlegende Blick, den all die Klugscheißer besaßen, die ihr in ihrem Leben schon alles mögliche angedreht hatten, machte sie misstrauisch.
„Ich möchte meinen Gewinn abholen“, sagte Grete leise.
„Sie haben gewonnen?“, fragte der Mann viel zu laut, „da gratuliere ich Ihnen aber herzlich. Haben Sie Ihre Kundenkarte dabei?“
„Ich heiße Grete Filbert und bin seit 45 Jahren Kundin bei dieser Bank“, antwortete sie ärgerlich.
„Gewiss, Frau Filbert. Ich benötige nur Ihre Kontonummer.“
Frau Filbert öffnete ihre Handtasche, zog umständlich ihre Geldbörse hervor, legte die Bankkarte auf den Tresen und entfaltete einen auf Briefmarkengröße zusammen gelegten Kontoauszug.
„Das Geld ist schon da. Hier, sehen Sie!“ Sie schob ihm den völlig zerknitterten Auszug hinüber.
Der Angestellte lächelt, gab etwas in den Computer ein, nahm dann einen Auszahlungsschein zur Hand, um ihn auszufüllen.
„Welchen Betrag möchten Sie ausbezahlt haben, Frau Filbert?“
„Na, hier steht’s doch, hm?“ Beinahe mitleidig schob sie ihm den Kontoauszug hin und nickte dabei.
„Natürlich, Frau Filbert, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur wissen, welchen Betrag Sie ausgezahlt haben möchten.“
Grete schaute den Mann verständnislos an.
„Na, alles natürlich.“
„Alles? Frau Filbert, das sind zehntausend Euro! So eine große Summe kann ich Ihnen nicht auszahlen.“
„Junger Mann“, entgegnete Grete streng, „Wollen Sie behaupten, dass ich erst eine Vollmacht brauche?“
„Nein, um Gottes Willen. Es geht nur darum, dass wir eine so große Summe nicht kurzfristig verfügbar haben“
„Aber das Geld muss hier sein. Man hat es mir doch geschrieben. Schon vor einer Woche!“
„Selbstverständlich, Frau Filbert. Der Geldeingang ist ja auch auf dem Computer verzeichnet. Aber aus Sicherheitsgründen halten wir in unserer Filiale keine größeren Summen zur Auszahlung bereit.“
„Und wo ist jetzt mein Geld?“, fragte Grete erzürnt.
„Sie können natürlich jederzeit darüber verfügen. Wenn Sie eine größere Summe abheben möchten, vereinbaren wir einen Termin und dann zahlen wir es Ihnen aus.“
„Termin?“, fragte Grete entsetzt, „aber dies ist doch eine Bank! Wo haben Sie denn mein Geld hingeschafft?“
„Frau Filbert“, versuchte der Schaltermensch zu erklären, „bei einer Überweisung werden die zehntausend Euro ja nicht in bar hierher gebracht, sondern sie findet über den Computer statt und…“
„Und was macht der Computer jetzt mit meinem Geld?“ Grete wurde langsam zornig.
„Er schreibt es Ihrem Konto gut, Frau Filbert.“
„Na, Gott sei Dank. Es liegt jetzt also auf meinem Konto?“
„Genau.“
„Und dieses Geld von meinem Konto möchte ich jetzt ausgezahlt bekommen!“
Der Mann sah sich verzweifelt um.
„Für Auszahlungen ab dreitausend Euro benötigen wir eine Vorlaufzeit von zwei Tagen. Wenn Sie es wünschen, halten wir am Montag die Summe für Sie bereit, Frau Filbert.“
„Und wo ist mein Geld am Wochenende, junger Mann?“
„Ihr Geld ist völlig sicher. Es befindet sich in den Tresoren der Zentrale.“
„Haben Sie keinen eigenen Tresor in der Bank?“
„Natürlich, Aber aus Sicherheitsgründen dürfen wir…“
„Ja, das weiß ich ja nun schon“, unterbrach ihn Grete unwirsch, „und nun muss jeder, der an sein eigenes Geld will, erst einen Antrag stellen…“
„Wir vereinbaren nur einen Termin, damit wir Ihr Geld auch dann zur Verfügung haben, wenn Sie es brauchen.“
„Ich brauche es jetzt und es ist nicht da.“
Der Angestellte bemühte sich, gütlich zu schauen.
„Wie wäre es, wenn ich Ihnen jetzt eine kleinere Summe auszahle, und am Montag können Sie den Rest abheben?“
„Am Montag kann ich schon tot sein.“
„Frau Filbert, wofür brauchen Sie denn so schnell eine so große Summe?“
„Junger Mann! Ich brauche das Geld für mich. Wenn ich es habe, weiß ich, wo es ist. Sie wissen ja nicht, wo mein Geld jetzt ist. Die Lotterie hat es hierher geschickt, und Sie haben es in irgendeinen Tresor gelegt, aber Sie erzählen mir, es liegt auf meinem Konto.“
„Die Buchung erfolgt auf Ihrem Konto, und Sie können Überweisungen in jeder Höhe tätigen oder bargeldlose Geschäfte durchführen. Lediglich größere Barauszahlungen müssen Sie vorher anmelden.“
„Es gab Zeiten, da haben Sie fünf Milliarden ausbezahlt und meine zehntausend Euro sind jetzt plötzlich ein Sicherheitsrisiko. Und was ist mit den anderen Kunden? Kommen die alle nicht an ihr Geld ran?“
„Frau Filbert, wir sind ja eine Bank und…“
„Ach was…“
„Und es werden Ein- und Auszahlungen getätigt, Geld arbeitet ja für unsere Kunden…“
„Und für wen arbeitet mein Geld gerade?“
„Sehen Sie, der Herr Müller zahlt fünftausend ein, und der Herr Meier hebt fünftausend ab oder der Herr Schmitt zahlt fünftausend ein und Herr Wagner erhält einen Kredit über fünftausend. “
„Ich kenne diese Leute nicht. Müssen die jetzt alle bis Montag warten? Und ist das nicht ein Sicherheitsrisiko, wenn Sie am Montag soviel Geld auszahlen müssen?“
„Das war nur ein Beispiel, Frau Filbert. Ich meinte, einer zahlt ein, und ein anderer hebt ab, so hält sich der Kapitalbedarf die Waage.“
„Aber mein Geld ist ja nicht da. Also muss es schon jemand abgehoben haben, der nicht bis Montag warten musste:“
„Wir versuchen nur alle Kunden zufrieden zu stellen. Stellen Sie sich vor, wir hätten viel Bargeld in der Filiale und dann kommen Bankräuber und stehlen Ihr Geld.“
Grete sah den Angestellten streng an.
„Ich bin nur alt, aber nicht dumm, junger Mann. Warum sollten die denn ausgerechnet mein Geld stehlen? Es weiß doch niemand davon, nur dieser dumme Computer. Und nicht einmal Sie wissen, wo mein Geld gerade ist.“
„Es ist doch auch in Ihrem eigenen Interesse, Frau Filbert. Wenn Ihnen auf dem Weg nach Hause das Geld gestohlen wird, ist es weg, weil es nicht versichert ist.“
„Und wenn ich trotzdem überfallen werde, und der Räuber schlägt mir aus Frust den Schädel ein, weil ich kein Geld habe, dann bin ich tot, und mein Geld liegt in der Zentrale im Tresor. Und Sie geben es dann am Montag den Herrn Wagner als Kredit.“
Der Mann lächelte gequält ob dieser Logik und antwortete nicht.
„Gut“, fuhr Frau Filbert fort, „dann werde ich am Montag wiederkommen und hoffen, dass bis dahin ihre Bank seriöser geworden ist und nicht ihren Kunden ihr Geld vorenthält, weil sie wohl kein eigenes hat.“
„Möchten Sie denn noch eine kleinere Summe mitnehmen?“
„Ich habe noch Kleingeld im Sparschwein, da komme ich aber momentan aus Sicherheitsgründen nicht ran, damit es nicht die Bank bekommt.“
Sirius
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Sirius, das ist goldig, ein absoluter Lesegenuss. Ich sehe die alte Dame direkt vor mir.
Dankeschön,
Leo
Schreiben macht schön.
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Da freue ich mich sehr, Leo, dass es dir gefallen hat. Dankeschön!
Sirius
Reset the World!
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Solche Kommunikations-Dichotomie Kuriositäten (Semilogik? Simulierte Analytik?) sind verdammt schwer zu händeln. Absurde Situations-Gespräche zu schreiben ist eine echte Kunst, die ihre Kunst durch Understatement beweist. (Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Sirius diese Finesse, na, 'beherrscht' wäre geschleimt, also: recht souverän zu handhaben weiß) Manchmal lasse ich mir Behördenbescheide von den zuständigen Sachbearbeitern erklären. Das ist auch immer wieder lustig.
Überhaupt, wie kommt man zurück, nachdem man sich in Simultanköpfe so intensiv eingefühlt, -gedacht hatte, wie notwendig und überhaupt möglich. Lacht nicht! Ich kenne Leute, die in der beharrlichen Verfolgung ihrer vordergründig, ach, so plausibel klingenden Überlegungen, den Rückweg nicht finden. Manche sind, quasi als Geburtsrecht, eh nie ganz von dieser Welt gewesen. WSIB (Name nicht geändert, aber der liest hier sowieso nicht mit) ist der liebste Mensch, den ich kenne. Er war allerdings wohl noch nie so richtig diesseitig. Oder er hat etwas verstanden, das ich nicht verstehen will. Meinetwegen soll er ruhig weiterhin an der Entfaltung einer Weltenseele arbeiten, mir ist Esoterik immer als Fluchtauto vorgekommen. Immerhin zündet er keine Häuser an.
Oder AD, der aus Elementen der Scheinlogik eine hässliche Mentalrakete bastelte und damit die Grenzen der Menschlichkeit passiert und ... immer noch weiter beschleunigt. Oder ein Lehrer, der nicht anders kann, als pädagogisch zu sein und damit Imploration verursacht, obwohl er lt. Ratgebern doch alles richtig macht.
Er weiß viel über Bücher aber wenig von der Wichtigkeit ein Mensch werden zu wollen, ohne dabei charismatischen Rattenfängern zu begegnen, bzw. auf den Leim zu gehen.
Und hier noch ein interessantes Repertoirestück:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziale...-a-1102343.html
Übrigens wohnt gerade eine irakische Familie auf der gleichen Etage, und natürlich helfe ich, so gut ich kann und Zeit und Lust habe. Mit dem Vater spreche ich türkisch, der wiederum spricht mich immer als 'Abi' (großer Bruder) an, ein Ehrentitel, besten Dank auch, aber wieder mal völlig übertrieben. Also da, wo die weg sind möchte ich keinen Urlaub machen. Doch die Kinder sind nicht so verhuscht, wie es die von den Syriern waren. Und ja! Es gibt mir ein geiles Gefühl, anderen Menschen Freude zu bereiten – egozentrischer Altruismus. Na und? Wichtig ist doch, im Nächsten einen Menschen zu sehen und kein Ding, eine Spielfigur beim geopolitischen Schach.
Zehn Weise können nicht einen Idioten ersetzen!
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Hallo Karl-Ludwig,
mit dem Zurückkommen hast du unbedingt recht, das ist wohl der schwierigste Punkt überhaupt, damit man sich nicht verläuft oder ewig weiter schreibt und die Kurve nicht mehr bekommt.
Amüsiert habe ich auch deine Ausführungen über WSIB gelesen.
Zu deinem interessanten Repertoirestück: Da lese ich doch gestern tatsächlich ganz andere Zahlen, die ein wenig mehr in die Details gehen:
http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueb...en-hartz-iv.php
Ich danke dir herzlich für deinen ausführlichen Kommentar!
Und ich finde es toll, dass du der irakischen Familie hilfst! Respekt!
Sirius
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