Der Anschlag
Der Bürgersteig, der zur Sparkasse führt, ist zweigeteilt: Links fahren die Radler und rechts gehen die Fußgänger.
Ich fahre auf dem Fahrrad auf der linken Spur, und ich habe es eilig.
Weit vor mir sehe ich schon zwei alte Damen, die hintereinander mit ihren Gehwagen den Fahrradweg blockieren.
Die eine Frau kenne ich, es ist Elsbeth Piper aus der Breslauerstraße, ein Juwel für jede Drachensammlung.
Ich drossele mein Tempo und betätige mehrmals die Fahrradklingel.
Unbeeindruckt davon schert die Piper plötzlich mit ihrem Rollator aus dem Windschatten heraus und setzt zum Überholen an.
Ich lege eine Vollbremsung hin und ein hinter mir fahrender Radler kann gerade noch fluchend ausweichen.
Frau Piper ist etwa zehn Meter in der Stunde schneller als die vor ihr gehende, mir unbekannte Frau.
Nach gut einer Minute ist die Piper gleichauf mit ihr und setzt nun mit ihren bandagierten Waden zum finalen Überholvorgang an.
Als sie gleichauf sind, schlägt die mir unbekannte Frau mit ihrer Hand wie wild auf den rechten Arm der Piper.
Diese winkt nur verächtlich ab. Und ruft spöttisch; „Marlene, zum Friedhof musst du da vorne rechts abbiegen.“
Dann schert sie scharf rechts ein und beeilt sich, Distanz zu gewinnen, denn die andere Dame
möchte ihr gerne den Rollator in die Hacken rammen.
Ich versuche die Frau zu trösten, die einen lustigen Smilieaufkleber auf der Ablage ihres Gehwagens hat.
„Nehmen Sie das bitte nicht so tragisch. Die Frau Piper ist oft sehr ungehobelt.“
Die Frau schaut mich böse an.
„Junger Mann, wegen Ihrer dummen Klingelei habe ich mich so erschrocken, dass die alte Ziege mich überholen konnte!“
Ich überlege, ob ich verärgert sein soll.
„Tut mir leid, aber dies ist schließlich ein Fahrradweg.“
Ein paar Tage später.
An der Kasse „Bis zu sechs Teile“ stehen wie immer die Einkaufswagen, die auch 97 Teile enthalten. Die Kunden, die nicht mehr als sechs Teile haben, weisen empört auf das Schild und machen den Ignoranten deutlich, dass ihnen jetzt eine Diskussion über den Unterschied zwischen sechs und z.B. zwanzig angenehm wäre.
Fluchend verschwinden zwei Hausfrauen mit ihren Wagen in die Warteschlange der normalen Kassen, wo an einer gerade das Schild „Letzter Kunde“ aufgestellt wird.
Ich schaue so unbeteiligt wie möglich und sehe mit meinem geistigen Auge meine Lebensuhr ablaufen.
Wie viel Zeit verbringt der Mensch in seinem Leben mit Warten? An Ampeln, im Supermarkt, in Wartezimmern bei Ärzten, Behörden, Anwälten, aufs Christkind, an der Pommesbude, am Bahnhof, an der Bushaltestelle, in irgendeiner beliebigen Schlange, auf irgendeinem Stuhl mit irgendeiner Nummer?
Das wüsste ich jetzt gerne, weil die ältere Dame vor mir mit Stock und Handtasche 1,97 Euro bezahlen muss. Aus ihrer Handtasche kramt sie eine große schwarze Damengeldbörse hervor und entnimmt ihr genau einen Euro, verschließt die Geldbörse, legt sie in die Handtasche zurück und kramt einen kleinen prallen Stoffbeutel hervor, dessen Inhalt sie auf das Laufband verstreut.
„Das müssen genau 97 Cent sein“, meint sie verlegen, „ich habe es schon abgezählt.“
Die Kassiererin ist derartiges gewohnt und macht sich daran, das Münzgeld zu zählen.
Ich meine, ein diabolisches Grinsen in den Augen der Alten zu sehen.
Natürlich habe ich es eilig, trotz aller sozialen Probleme meiner Mitmenschen und deshalb gestatte ich mir, an die Decke zu schauen und die Augen zu verdrehen, mit einem kurzen Zucken der Mundwinkel.
Die alte Frau tritt mir heftig gegen das Schienbein.
Erschrocken hält sie die Hand vor dem Mund, um ihr Entsetzen zu darüber zu zeigen, was das unkontrollierbare Zucken ihrer Beine verursacht hat und entschuldigt sich mit einer Kurzfassung ihrer Krankengeschichte.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht antworte ich. „Schon gut, ich habe ja noch ein Bein.“
Die Kassiererin ist fertig.
„Einen Cent zu viel. Hier bitte.“
„Na so was“, schüttelt die Alte den Kopf, öffnet die Handtasche, holt den Stoffbeutel hervor, um den Cent zu verwahren. Dabei fällt ihr das Geldstück auf den Boden.
Sie ist flink, bückt sich vor mir nach dem Cent und rammt mir beim Bücken ihren Stock zwischen die Beine.
Aus vermutlich reiner Sympathie verzieht die Kassiererin auch schmerzverzerrt das Gesicht, wedelt mit der Hand und lässt ein privates „Uhhh!“ verlauten.
Ich zucke zusammen und gehe ein wenig in die Knie und entscheide mich dann spontan für ein kurzes „Ohhh!“
Die alte Dame hebt erst ihren Cent auf, erhebt sich, dreht sich um und scheint völlig erschüttert.
„Nein, ist mir das peinlich, junger Mann. Mein Gott, das tut mir aber leid!“
„Schon gut“, möchte ich sagen, „ich habe ja noch einen Hoden“, aber stattdessen nicke ich nur, als passiere mir das unentwegt.
„Geht’s wieder?“, fragt die Verkäuferin mitfühlend.
„Im Moment würde ich mich mehr mit dem Vorspiel aufhalten.“
Die alte Dame lächelt und packt ihre Kaffeefilter, zwei Tüten fettarme Dosenmilch und die Zeitung ein, die angeblich keiner liest.
Ich bin sicher, dass das ein geplanter Anschlag war und dass die Frau nebenberuflich Terroristin ist.
Die Dame geht langsam zu dem Packtisch, an dem ein Rollator mit einem Fahrradschloss befestigt ist.
Er hat einen lustigen Smilieaufkleber…
Sirius
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Supergut, Sirius!
Liebe Lottegrüße in deinen Sonntag
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Lieben Dank euch beiden! Ich freue mich, wenn es euch gefallen hat.
Sirius
Reset the World!
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