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RE: Vorgezogenes Epitaph auf einen netten Typen

#1 von Karl Ludwig , 31.08.2016 13:37

Nun liegt er mit knapp 48 Jahren nach einer Herzoperation auf der Intensivstation. Tja, wie kam es dazu? Ohne eine Schuldfrage zu stellen oder gar die Schuldantwort zu geben, will ich hier so neutral wie möglich einen Prozess beschreiben, wie er wohl semitypisch vielen Männern passiert. Neutral aber im direkten Vergleich, und das ist wirklich nicht ganz einfach.

Ich hole weit aus: Wir alle haben uns verarschen lassen von Fernsehkommissaren mit Zigarette links und Cognacglas rechts, von meilenweit für eine Fluppe reitenden Cowboys, fröhlichen Trinkern nach der Segelregatta, Politikern, die weltmännisch mit Zigarre unsere Geschicke lenkten, und ganz allgemein von unseren sozialen Bedürfnissen dabei zu sein und wie ein Erwachsener ernst genommen zu werden.

Antialkoholiker und Nichtraucher waren für uns Memmen, die mit ihren Missionierungsgebaren jedem gefährlich auf den Senkel gingen. Meistens waren die auch noch Vegetarier und häufig hatten sie einen 'Spirituellen Meister' oder behaupteten einfach Buddhist zu sein. Schlussfolgerung: Das Marketing war einfach Scheiße! Es gibt leider keine vergleichbar skrupellose Nichtraucherindustrie mit starker Lobby und unverschämt hohem Werbeetat. Ich jedenfalls rauchte gar mannhaft Rothändle, später schwarzen Krausen, inzwischen Bantam, aber nur zum Mischen mit Kiffkram und … ha! Das muss ich euch jetzt aber, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, erzählen: Ich habe mal gelesen, dass Kiffer seltener Lungenkrebs bekommen als normale Raucher, ja, sogar als Nichtraucher. Nach dem rituellen Kopfkratzen der Fachleute, die bloß eine, auf 'Gesundem Menschenverstand' beruhende, einleuchtende Überlegung verifizieren wollten, welche leider mit dem Nachteil behaftet war, föllig valsch zu sein, einigte man sich auf folgende Interpretation: Dadurch, dass Kiffer äußerst tief inhalieren, killen sie die anfälligen Zellen, bevor diese auf die Idee kommen können, nun ihrerseits mit Krebs auf diese Unverschämtheit zu reagieren. Wäre das nicht irre? Falls es stimmen sollte …

Rauchen gegen den Lungenkrebs! Die Tabakindustrie würde Bilanzen mit steilen Gewinnkurven vorweisen können, vielleicht müsste sogar rationiert werden. Und natürlich würde das Rauchen mindestens, wenn nicht noch mehr, teurer. (Bei Dagobert Duck wurde in so einem Fall ein Loch in die Decke geschnitten, ich habe das Bild deutlich vor mir.) Na ja, ich kann da auch nichts für. Selbst wenn diese amüsante Vorstellung überhaupt nicht in kein Epitaph gehören sollte, – das ist mir egal – ich musste das einfach mal loswerden.

Es ging um die Manie, sein Bewusstsein zu marinieren, heute am Beispiel Alkohol und Nikotin: Zum Abschalten, Fröhlich-Sein, gegen Ärger und Langeweile, um etwas zu feiern, oder zu beklagen, ach, es gibt immer einen Anlass – in Wirklichkeit wird das Saufen erst zu einer gebräuchlichen Gepflogenheit, dann zu gewöhnlicher Gewöhnung und später häufig zur Besessenheit. Dito Rauchen, eine echt ekelhafte Angewohnheit und mit größerem Suchtfaktor versehen als Heroin, angeblich wegen dem Durchdringen von irgendwelchen Hirnschranken. Nein, ich metamorphierte nicht von Saulus zu Paulus, Dorf-Dorf ist nicht Damaskus, ich rauche immer noch wie ein Schlot und dem Alkohol habe ich nur deswegen entsagt, weil ich ihn nicht mehr vertrage.

Alkohol und Nikotin sind vielleicht nicht die größten Verarschungen, aber wahrhaft schwer gravierende.

Gut. Dieses zu erwähnen war mir ein Anliegen kund tun um zu wissen. Zurück zum Protagonisten. Nennen wir ihn 'Namenlos'. Nach der Ausbildung zum Klempner, mit gutem Job, einer Frau nebst Kind und … Ja, was 'und'? Nichts! Oder doch so wenig, dass er, als die Frau sich mannmäßig verbessern wollte, fast Negativsubstanz bekam. Er funktionierte zwar weiterhin, ging zur Arbeit und verbrachte die Abende saufend vor der Hirnzuscheißmaschine, fast so wie ich nach meiner ersten Scheidung. Nach der zweiten übrigens auch. (So mit 55 kapierte ich erst, was ich Döspaddel früher schon fast stolz ständig verkündete: Sie kommen – sie gehen!)

Auch wenn ich es anders nannte
war es ein Zustand, den ich kannte:
Blues!

Manchmal aber lächelt das Leben grundlos freundlich. Meistens schneidet es ja nur Grimassen. Eine tolle Tante interessierte sich für Namenlos, ohne zu wissen, dass er ein Säufer war, hart an der Grenze zum Alkoholiker. Vielleicht schon darüber hinaus. Als sie merkte, dass sie seine Lügen nicht verkraftet („Nein, ich habe nichts getrunken.“), verließ sie ihn, erwarb mit ihrer Abfindung von VW ein Gehöft, eröffnete eine Tierpension und nahm sich einen Anderen, diesmal einen Tischler. Kluges Mädchen.

Das war ihm wohl der letzte Tritt in die Eier. Nun konnte man zusehen, wie er verfiel. Zunächst verlor er seinen Führerschein, dann den Job. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Zähne, genehmigte sich aber dafür ausgleichend immer öfter Hartschluck, kam mit den Anträgen auf Beistand zum Lebensunterhalt nicht zurecht, – wir halfen beim Ausfüllen der Formulare. Er bewegte sich bald schleppender Weise nur noch zwischen Bett und Rechner hin und her, aß Pizza mit Heringen und Bananen und metzelte virtuell. Mir stellte sich die Frage: Bekam er es nicht mehr gebacken, weil er schwach wurde, oder wurde er schwach, weil er nichts mehr gebacken bekam? Und ist das überhaupt wichtig? Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang ruhig mal den verfemten Begriff 'Schicksal' benutzen. Oder gegenseitige Bedingung. Empirie (intelligente Schätzung auf Grundlage von Intuition, Vermutungen und Herumspielen mit anzupassenden Konstanten) ist wenig hilfreich, wenn es darum geht die Ursache einer Selbstzerstörung zu lokalisieren, – es gibt immer mehr Ursachen, als wir erkennen. Das gilt sowohl in der Physik als auch gerade dann, wenn es sich um einen Menschen handelt, dieser wandelnden und angeblich intelligenten Dichotomie auf zwei Beinen mit der Illusion von Willensfreiheit und der allzeit gegebenen Bereitschaft, sich Vorteile auf Kosten Anderer zu verschaffen, – im Erfinden von Ausreden sind wir Menschen nämlich äußerst kreativ und halten dieses Talent für wahrhafte Intelligenz. Hö-hö!

Nun, ich bin 66 Jahre alt und darf mich deswegen etwas abgeklärter geben, das wird auch so von mir erwartet. Bzw. so erwarte ich das von mir. Aber was bin ich denn, bei ungeschönter Analyse, mehr als ein Bündel aus schlechten Angewohnheiten, oberflächlicher Neugier, tief sitzenden Schuldgefühlen, unbewussten Reflexen, unnötigen Ängsten, lieb gewordenen Vorurteilen, trotzigen Hoffnungen, maßloser Gier und auch noch, – nach Libet –, mit ohne eigenständig-, selbst tätiger Entschlussfähigkeit. Wie kann ich meinen Nächsten be- oder gar verurteilen, wenn ich doch die gleichen Symptome zeige. Ich habe nur mehr Glück gehabt. Soll ich mich deswegen besser fühlen? Als was Besseres?!? Ich hatte optimierte Startlöcher, dadurch, dass ich während den Jahren, die man so leichtsinnig 'Die Prägenden' nennt, das halbe Jahr im … äh … Jahr auf einer Insel vor Istanbul wie ein Seeotter lebte, spielte, rannte und sogar einmal zum Jugendmeister im Boden- und Geräteturnen gekürt wurde, es noch keine Lebensmittelskandale gab und da ich im Ete-Petete Bürgertum verhaftet bin, lernte ich Bildung, Wissen zu schätzen, ohne zu ahnen, dass es sich dabei um never ending Prozesse handelt, mit denen ich noch arg hadern werde.

Ich glaube, Toleranz entsteht u.U. auch, wenn man selber mal in der Gosse lag und für diese Schmach keine Entschuldigung mehr fand. Davon bekommt man akute Demut, – diese hat allerdings meistens leider nur eine kurze Halbwertszeit.

Wir gaben ihm die Möglichkeit 'neutrales Geld' zu machen, bei weitgehendst freier Definition des Arbeitsumfanges. Er baute fast nur Mist, den ein Fachmann dann wieder in Ordnung bringen musste (Dabei war er selber mal einer gewesen). Irgendwann kam er nicht mehr richtig in die Hufe, Einkaufen mit dem Fahrrad wurde fast zu beschwerlich, jemand fuhr ihn mit dem Auto zum Supermarkt oder fragte, ob er was mitbringen soll. Die Beine schwollen an, der Körper schwand, mikrigisierte (Schönes Wort für Schrumpeln, Vergehen? Hm … Ich glaube fast, dafür gibt es keine schönen Wörter). Thrombosen und Blutgerinnungsmittel – aber im Prinzip hatte er die Selbsterhaltungsmaßnahmen eingestellt. Zum Arzt schleppte er sich nur palliativ, Symptome behandeln und auch nur, wenn er sowieso Alkohol kaufen wollte und kein Kleinstdorfbewohner hier Zeit hatte. Nein, Lustig war das für niemanden, nicht wirklich, – aber glaubt nun jemand, die übrigen Säufer hier würden die richtigen Schlüsse ziehen? Der Eine kann nach dem zweiten Bier nicht mehr richtig reden, sein Bruder ist ein Pflegefall, der andere kann nur Brusttrommel a la Schimpanse spielen, nach einem Takt, der nicht von dieser, bzw. meiner Welt ist. Alle sind sie fast 20 Jahre jünger als ich. Mein ältester Freund, wirft einen gewaltigen Schatten – hat halt statt Waschbrettbauch einen Waschmaschinenbauch und schwere Gichtanfälle. Kann aber trotz ärztlichem Rat seinen Weingenuss nicht kappen und auch nicht 'einfach weniger schlemmen'. Mein Anwalt hat das Probesterben mit Reanimation wg. Herz- oder Hirnschlag hinter sich, was weiß ich, und man sieht ihn inzwischen tatsächlich ohne das einst obligatorische Sixpäck auf dem Träger durch die Stadt radeln.

Und (geflüstert) … ich kenne, nein, kannte viele Leute, die gesund lebten, möglicherweise sogar Sport trieben und die keine 45 Jahre alt wurden. Aber: „Pssst!“ Ich will doch niemanden zu einem wüsten Leben verführen, so in der Tonart 'Mehr von davon, Hauptsache es knallt', nur weil Statistiken nicht persönlich sind und die Ausnahmen völlig normal.

Kann ich es verurteilen? Hatte ich denn früher die Beispiele nicht auch vor Augen, hielt mich aber für unsterblich, am allerunsterblichsten nach Bier und Kiffkram, oder, noch besser, nach Opiatmissbrauch, dann, wenn alles egal wird? Alle Sorgen verschieben wir auf morgen (suhl), und zwar jeden Tag!

Nein, manchmal kann man für den Nächsten nicht mehr tun, als einfach nur da zu sein.

Das war ich, als wir ihn in einen Wagen setzten und zum Notarzt schleppten, der ihn sofort ins Krankenhauses karren ließ. Einige Stunden später mailte er, dass er gleich operiert würde; seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Erkundigen klappst nich, weil keiner hier mit Namenlos verwandt ist.

Mein Gefühl sagt mir aber, dass die Ärzte ihn halbwegs wieder hinbekommen werden. Einige Tage ohne Suff sind ja auch nicht schlecht. Und wer weiß, vielleicht berappelt er sich noch mal und erkennt, dass keine Frau auch viele Vorteile mit sich bringt. Mir jedenfalls gefällt es, wenn mich meine … äh … Bekannte besuchen kommt, aber ansonsten keinen Anteil nimmt, das hat natürlich auch viel mit dem landestypischen Wohlstand zu tun, sich einen Ein Personen Haushalte leisten zu können und unserem Selbstverständnis als autarke Wesen, immer souverän, integer und so. Oder: Wir haben eine Macke mehr als ihr und sind nicht gesellschaftsfähig. Halt keine natural born Familienmenschen.

Ach Namenlos. Ich kann nicht in dich hineinblicken, ich kann es ja selbst bei mir bloß marginal und dann vergleichen und dabei unterstellen, dass du 'Rot' genau so wahrnimmst wie ich. Falls du nicht wieder kommen solltest, kann ich eine Option auf deine Erdgeschoßwohnung geltend machen? Ich komme inzwischen auch nicht mehr so gut die Treppe hoch. Außerdem würde ich mir gerne das Renovieren meiner ziemlich abgewohnten Bude sparen. Die fast neue Waschmaschine, – der Anschluss war unser letztes gemeinsames Projekt –, nehme ich mit. Deine Kaution tausche ich dann mit der meinigen, da oben brauchst Du kein Geld; ich schütte dir ein Flasch Bier über das Grab, die Restknete wird auf Grün gepolt. Bei dir ist ja auch der Internetempfang supi.

Also, wenn ich es mir recht überlege, … hm … soll ich dir da wirklich gute Besserung wünschen? Noch einige beschwerliche Jahre in kläglicher Einsamkeit, änt Feuerwater is your only friend?

Na, es ist dein Leben. Vielleicht lernst du ja noch die Tricks, auch aus dem, was man nicht hat, das Beste zu machen und sich selber zu ertragen, ganz ohne zentrales Nervensystem stimulierenden Substanzen …

… ich übe das schließlich auch...


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RE: Vorgezogenes Epitaph auf einen netten Typen

#2 von Karl Ludwig , 31.08.2016 16:53

Wie ich es mir gedacht habe. Namenlos mailt schon wieder. Er hätte nun das Rauchen aufgegeben.


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RE: Vorgezogenes Epitaph auf einen netten Typen

#3 von Sirius , 31.08.2016 20:59

Raucher, Tante, Tischler, Notarzt, Erdgeschosswohnung, also alles drin in der Geschichte.
Wenn sie nur nicht immer so lang wären und meinen Lebensetat so kürzen würden, jetzt, wo mir schon wieder ein Jahr fehlt.
Aber gelohnt hat es sich ja wie immer, Karl-Ludwig, war ausgesprochen unterhaltsam.
Und der Namenlos tutet mir natürlich leid.
Ich hätte auch lieber das Mailen aufgegeben.

Sirius


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