Knigge für Unbemittelte

Aus deutsches Volk, von Ulm bis Kiel:
Ihr eßt zu oft! Ihr eßt zu viel!
Ans deutsche Volk, von Thorn bis Trier:
Ich seid zu faul! Zu faul seid ihr!

Und wenn sie euch den Lohn entzögen!
Und wenn der Schlaf verboten wär!
Und wenn sie euch zu sehr belögen,
dass sich des Reiches Balken bögen!
Seid höflich und sagt dankesehr!

Die Hände an die Hosennaht!
Stellt Kinder her! Die Nacht dem Staat!
Euch liegt der Rohrstock tief im Blut.
Die Augen rechts! Euch geht’s zu gut!

Ihr sollt nicht denken, wenn ihr sprecht!
Gehirn ist nichts für kleine Leute.
Den Millionären geht es schlecht.
Ein neuer Krieg käm ihnen recht.
So macht den Ärmsten doch die Freude!

Ihr seid zu frech und zu begabt!
Seid taktvoll, wenn ihr Hunger habt!
Rasiert euch besser! Werdet zart!
Ihre seid kein Volk von Lebensart!

Und wenn sie euch noch tiefer stießen
und würfen Steine hinterher!
Und wenn sie euch verhaften ließen
und würden nach euch Scheibe-schießen!
Sterbt höflich und sagt Dankesehr!

Erich Kästner

Ich liebe Kästner besonders wenn er ABAAB benutzt. Und natürlich Morgenstern, Ringelnatz, Gernhardt, Busch ... und mehr weiß ich gerade nicht. Ich versuche zur Zeit halbherzig den mörikeschen Pfeuerreiter auf Deutsch zu übersetzen. Der Typ hatte vielleicht ein krankes Reimschema:

A Sehet ihr am Fensterlein,
B Dort die braune Scheiße wieder?
A Nicht geheuer muss es sein,
B Sie marschieren auf und nieder.
C Und auf einmal mit Gebrülle,
D Werden Nazislogans laut.
D Und erneut wird Mist gebaut.
E Hier vor Ort,
E Hier vor Ort:
C Hat's Gülle in Hülle und Fülle!

Hm. Die letzte Zeile holpert wegen dem Rapp. Und warum jemand jede Zeile mit einem Großbuchstaben anfangen muss, ist wohl bloß ein weiteres Phänomen.

Kästner! Der Mann mit dem metaphorischen Zeigefinger. Dichten jedenfalls konnte er ungeheuer flüssig. Als Kind hatte ich ihn seitenlang auswendig gekonnt. Kästner unterlief die von Goethe und Schiller so hoch gelegte "Lyrik-Latte" und schrieb lieber für den Hausgebrauch ohne Krawatte. Ein großer Moralist und Menschenkenner. Er hat der Welt, die es gar nicht verdient, besser hinterlassen als vorgefunden.

Das mit den Grossbuchstaben am Anfang ist so eine stilistische Marotte, die nicht immer der Autor verbrochen hat, sondern die oft von den Verlagen stammt.
Ich sehe das andauernd. Am schlimmsten ist Satzanfang groß und alles andere klein.
Vom „Feuerreiter“ gibt es eine Erst – und eine Endfassung. Die Erstfassung hat vier, die Endfassung hat fünf Strophen.
Deine Neufassung, drastisch gekürzt und auf das Wesentliche beschränkt, gefällt mir trotzdem gut. Eine „Übersetzung“ ist es nicht so direkt, aber eine gelungene Eigen-Interpretation, für die du vielleicht mal nach Polen deportiert wirst.
Nicht jeder hat so viel Glück wie Kästner, den ich auch sehr schätze.

Sirius

A Schaut, da rennt doch wütend schier,
B Durch die Stadt, die dumpfe Brut.
A Schlimmer noch als jedes Tier,
B Ist der Mob in seiner Wut.
C Doch mir ist es meist Vanille.
D Aber manchmal, frag ich stumm:
D "Warum ist der Mensch so dumm?"
E Hier vor Ort,
E Hier vor Ort,
C trägt man braune Brille.

Wunderbar, Karl-Ludwig, gefällt mir sehr!

Sirius