Aufstand des Anstands
Die Debatten in Deutschland über Seenotrettung haben einen moralischen Tiefpunkt erreicht
Wenn ein Kind im Schwimmbad ins tiefe Wasser fällt, würde jeder von uns hinterherspringen und das Kind retten. Wenn eine Familie in ihrer Wohnung zu verbrennen droht, würde sich jeder gegen die verschlossene Tür werfen. Nichts anderes haben zahlreiche zivile Seenotretter in den letzten Monaten und Jahren im Mittelmeer gemacht.
Der Retter aus dem Schwimmbad stände als Held auf den Titelseiten der Regionalzeitungen. Die Retter auf dem Mittelmeer hingegen werden kriminalisiert und von italienischen und maltesischen Gerichten angeklagt. Politiker greifen zu Vokabeln, deren Unmenschlichkeit vor wenigen Jahren noch zu Rücktrittsforderungen geführt hätte. Und eine große deutsche Wochenzeitung fragt gar, ob man Menschen überhaupt aus Seenot retten solle. Die Debatten in Deutschland haben einen moralischen Tiefpunkt erreicht.
Doch viele Deutsche merken das und wehren sich. In den vergangenen Wochen gingen laut Seebrücke in zahlreichen Städten 35.000 Menschen für die Seenotrettung im Mittelmeer auf die Straße. Am 30. Juli schrieb die Bewegung Seebrücke, die die Demonstrationen organisiert und koordiniert, auf Facebook, dass am Wochenende erneut 10.000 Menschen deutschlandweit auf der Straße waren, wodurch sich die Zahl auf über 45.000 erhöht. Sie protestierten dagegen, dass die Schiffe der zivilen Seenotretter in Italien und Malta festgesetzt werden. Allein in München demonstrierten 25.000 bis 50.000 Bayern, um gegen die Politik der Angst und Hetze zu protestieren. Dass sie für so etwas Selbstverständliches wie Seenotrettung auf die Straße gehen müssen, zeigt, dass sich die Grenzen des Anstands in Deutschland verschoben haben.
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