Christoph Meckel: „Augen“
Welche geheimnisvolle Kraft geht von den Augen aus? Christoph Meckel erkundet mit seinen Versen die vielfältigen Möglichkeiten des Sehens.
Die Augen gelten als das wichtigste Sinnesorgan. Sie ermöglichen es, Welt wahrzunehmen und zu erfassen. Doch zugleich scheint von den Augen selbst eine Kraft auszugehen, eine Kraft, die verführen kann oder beschwören, bisweilen kann sie sogar andere Menschen in Trance versetzen. Und etwas Drittes kommt den Augen zu: die Fähigkeit, die Wahrnehmung zu übersteigen, in übersinnliche Welten oder in das eigene Innere einzutauchen. Nicht von ungefähr hat der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf einmal geschrieben: „Gib mir die Augen der Sepien/die sanften nach innen blickenden.“
Christoph Meckel, der mit seinen wundersam irrlichternden Versen bisweilen an einen fernen Verwandten Ekelöfs erinnert, fächert all diese Vermögen des Auges auf. In einer Art dialektischem Dreischritt, so will es beim ersten Lesen erscheinen, versucht er die Möglichkeiten von Erkenntnis zu erkunden. Den Augen der „Gesunden“ stellt er die Augen der „Kranken“ gegenüber, um die Einseitigkeit beider Perspektiven in einem umfassenden Dritten, den Augen der „Toten“, aufzuheben. Dazu passt die Struktur der ersten sechs Verse, die fast gleich gebaut sind, von der Anzahl der Wörter bis zu ihrer Verteilung, erst in der Mitte der sechsten Zeile ändert sich das Verhältnis.
Doch beim genaueren Hinsehen verschieben sich die scheinbar klaren Oppositionen. Die Verben „erkennen“ und „durchschauen“ bilden kein Gegensatzpaar, auch der „Rand des Atlantik“ und die „Stelle an der der Glanz / der Nordlichtblitze zu Ende geht“ sind nicht in Form eines Dualismus aufeinander bezogen. Eher handelt es sich um ein Moment der Steigerung, das die gewohnten Bedeutungen umkehrt. Die „Gesunden“ sind in ihrem Vertrauen auf den bloßen Verstand hier die eigentlich Eingeschränkten, ihre Erkenntnis reicht gerade bis an den Rand der sinnlich erfahrbaren Welt. Die „Kranken“ indes treten als die wirklich Sehenden auf, sie „durchschauen“ die Welt, was mindestens zweierlei heißen kann: Sie schauen durch die empirische Welt hindurch und realisieren zugleich, dass der reine Verstand und die Sphäre des Wahrnehmbaren nicht alles sind. Zwar durchschauen sie die Welt nicht ganz, aber doch bis zu jenem Punkt, an dem sehr besondere Phänomene zu sehen sind.
Christoph Meckel: „Augen“
gewidmet dem Gedenken Klabunds
Die Augen der Gesunden
erkennen die Welt
bis an den Rand des Atlantik,
die Augen der Kranken
durchschauen die Welt
bis zu der Stelle an der der Glanz
der Nordlichtblitze zu Ende geht.
Die Blicke der Toten
übersehen die ganze Erde
und erkennen selbst die alternden Engel
die hinter den Schlüssellöchern
schweigend sich drängen um einen Blick
in meine ratlosen Augen zu werfen.
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