ROMAN VON VALERIE FRITSCH
Oh Stellvertreterweh!
Ein wundersam stilles Büchlein: Valerie Fritschs „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ist weniger Familienroman als eine fein gestrickte Parabel auf den Schmerz.
Mit der Erzählkunst sei es endgültig zu Ende, schrieb Walter Benjamin 1936, weil sich nach dem ersten Weltkrieg die Erfahrungsqualität so drastisch verändert habe, dass den Zeugen nur das Schweigen übrig blieb. Ob die österreichische Autorin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch Benjamin gelesen hat, darüber kann nur spekuliert werden. Dennoch: Wollte man Benjamins melancholischen Blick auf den Verlust der Mitteilbarkeit von Erfahrung in eine literarische Form gießen, käme vielleicht ein Roman wie „Herzklappen von Johnson & Johnson“ dabei heraus.
Dem Personal nach handelt es sich um einen klassischen Familienroman. Da ist der Großvater, der erst den Zweiten Weltkrieg als Soldat, dann die Lagerhaft, wie er meint, nur durch Zufall überlebt hat und der fortan jeden Tag unter dem Auserwähltsein leiden wird. Da ist die Großmutter, die seinem Schweigen einen Reigen an „Stell dir vor“-Geschichten entgegensetzt und in deren Wohnung Zeit und Aufmerksamkeit einer anderen Ordnung gehorchen. Da ist die Mutter, penible Matriarchin in einem klinisch sauberen Zuhause, „in dem sie jeden Dienstag die Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwoch kam“. Und da ist, im Zentrum des Romans, Alma, die Tochter, eine Kinderbuchillustratorin, die in Momenten zu großer Emotionalität Zitronenbonbons lutscht und die Beine anzieht.
Dieser Hauptfigur ist auch der glückliche Umstand zu verdanken, dass schon nach wenigen Seiten feststeht, dass die Geschichte weniger ein klassischer Familienroman als eine fein gestrickte Parabel auf den Schmerz ist. Alma ist eine kurios dem Leben entrückte Person, der die Erzählstimme des Romans so nah auf den Fersen folgt, dass man manchmal ganz in ihrer Sinnlichkeit versinkt. Ihre Kindheit wird durch das elterliche Schweigen regiert, das vielleicht über das Trauma des Großvaters in die Familie einzog, vielleicht aber auch schon vorher da war. So genau erfährt man es nicht, denn die Geschichte hält sich vom Pathologisieren glücklicherweise fern. Jedenfalls war ihr kindliches Zuhause derart still, dass Alma dachte, wenn das Telefon klingelte, „es läutete im eigenen Kopf“. Dazu passt, dass ihr das Umfeld „mitunter beängstigend kulissenhaft“ scheint, „brüchig zusammengezimmert“, wie ein schlechtes Theaterstück, eigens für sie aufgeführt.
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