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Jan Röhnert: „Postkarte aus Hadramaut“

#1 von Sirius , 06.07.2021 17:23

Jan Röhnert: „Postkarte aus Hadramaut“

Erinnerung an eine Erinnerung: Dinge gehen verloren, Menschen geraten aus dem Blickfeld, Länder verschwinden von der Landkarte. Das Gedicht beschwört Untergegangenes zuverlässig wieder herauf.

Wo in aller Welt liegt die Postkarte aus Hadramaut? In welcher Schublade, in welchem Buch, als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt, ging sie verloren? Ich bin drauf und dran, erst den Schreibtisch, dann die Regale des Bücherschranks, schließlich die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen. Unruhe, Rastlosigkeit ergreifen mich, ein Gefühl von Wut und Bestürzung, von meinem eigenen Leben abgeschnitten zu sein, solange die Postkarte aus Hadramaut verschollen bleibt. Was hat sie, die ich hatte hervorkramen wollen, um mich der plötzlich aufgekommenen Erinnerung an eine alte Erinnerung zu vergewissern, was haben die weißen Hochhäuser von Hadramaut auf ihr mit mir und meinem Leben zu tun?
Die Geschichte der Postkarte führt in jene Zeit zurück, als ich noch alle Briefmarken, welche uns unregelmäßig aus aller Welt erreichten, in ein Album steckte. Der Professor lehrte Deutsch und Englisch im, wie es hieß, „befreundeten Ausland“, erst im indischen Hyderabad, als Indien noch mit dem Sozialismus liebäugelte, dann in der „Volksdemokratischen Republik Jemen“.

Auf den kleinen Marken, die uns aus Indien erreichten, war ein beturbanter Teppichweber mit einem Schriftzug in Sanskrit zu sehen, auf den größeren Marken aus dem jemenitischen Bruderstaat ein Wiedehopf mit eigentümlich monumental stilisierten kufischen Lettern darunter abgebildet, der ältesten für heilige Texte verwendeten arabischen Kalligraphie.

Das Auto des in der Ferne tätigen Professors stand während seiner Abwesenheiten in der zur Garage ausgebauten Scheune, die mein Großvater ihm angeboten hatte, sie waren befreundet, man half sich gegenseitig aus mit dem, was einem jeweils zuhanden war, wir besaßen die Garage, er die ferne Welt, aus welcher er uns von Zeit zu Zeit Postkartengrüße zukommen ließ. Ich bekam den Professor selber nie zu Gesicht, und als die Jemenitische Volksrepublik einen Monat vor dem Ende der DDR in der westlich gelegenen Arabischen Republik Jemen aufging, brauchte man den Professor dort nicht mehr, unsere Garage wurde an andere verpachtet.

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https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b...t-17418750.html


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Sirius
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