THOMAS PFENNINGER: Gleich, später, morgen
Wo Schwäche verachtet wird, ist es umso imposanter, Schwäche zu zeigen: In Thomas Pfenningers starkem Romandebüt „Gleich, später, morgen“ setzt sich ein Mann mit besten Absichten über alle Regeln hinweg. Dann geht die Post ab.
Allein Jacques Derrida ist es gelungen, und auch das nur ein einziges Mal. In „Die Postkarte“ (1980), einer Art allumfassender, selbstbezüglicher Korrespondenz zwischen Sokrates und Freud, bog er funkenschlagend die Postmoderne mit der Post zusammen. An sich aber ist das analogste und älteste aller Kommunikationsmedien wesenhaft prämodern. Es kommt nicht ohne auratische Realien aus, beschriebenes Papier, das eine andere, im besten Falle geliebte Person zuvor in Händen hielt. Auch bei Thomas Pfenninger, einem so gewitzten wie scharfsichtigen Schweizer Autor, der bislang mit Gedichten an die Öffentlichkeit getreten ist, hat die Post nichts gemein mit dem hypernervösen Geschnatter in digitalen Netzwerken. Seinen so lakonischen wie warmherzigen Briefträgerroman „Gleich, später, morgen“ hat der Autor denn auch sicherheitshalber zurückdatiert in die frühen Neunzigerjahre.
Und doch geht es hier nicht um Nostalgie, sondern um anthropologische Konstanten. Alles, was Pfenningers namenloser Briefträger, ein unzuverlässiger, unbeholfener und leicht entrückter, dabei aber äußerst empathischer Held, im beschaulichen Züricher Südwesten erlebt, könnte wohl ebenso gut heute spielen. Einsamkeit und Sehnsucht, Überschuldung und Affären, Drogensucht und Spießigkeit, Schicksalsschläge und Blockwartmentalität, das Gerede und den Tratsch, all das gibt es schließlich immer noch in jeder besseren Nachbarschaft. Wer zwischen den so eng beieinanderlebenden, einander dauerbeobachtenden und doch letztlich wenig Substanzielles voneinander wissenden Menschen hin und her pendelt und erstaunlich intime Einblicke in ihr Leben hat – „Denn die Post, die jemand erhält, verrät viel: Absender, Interessen, Verstrickungen“ –, das eben ist der täglich seine Runde drehende, als Mensch aber meist übersehene Briefträger.
Sind es zunächst nur einzelne Briefe, die der Protagonist zurückhält, ein amtliches Schreiben an den sich stets aufspielenden und den Jugoslawen Jozo offen verachtenden ehemaligen Postbeamten Schweizer oder eine Trauerkarte an die verbitterte alte Kälin, so weitet sich seine Übergriffigkeit bald aus. Angetrieben wird der Held, zumindest nach eigener Einschätzung, von Empathie. Einem überschuldeten Paar möchte er keine Rechnungen mehr zustellen, sondern begleicht sie lieber aus seinem Ersparten. Für eine verlassene Mutter fälscht er Briefe der fernen Tochter. Schnell wächst ihm das alles über den Kopf, aber mit Verstocktheit und Geschick (einem Anhänger mit doppeltem Boden) kommt er so lange durch, bis sich die gesamte Nachbarschaft in hellem Aufruhr befindet. Das Kartenhaus fällt schließlich zusammen, aber doch anders und tragischer als erwartet. Verliebt hat sich der Held dabei auch noch.
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