Thomas Melle „Das leichte Leben“
Thomas Melle leitet in seinem Roman „Das leichte Leben“ die Endzeit der bürgerlichen Welt ein.
Kathrin will mit Jan ins Theater. „Was! Schon wieder Familienkatastrophen?“, sagt Jan. „,Warum nicht‘, kicherte Kathrin ... ,Solange wir keine sind, können wir uns ja das Elend der anderen reinziehen.‘“ Jan darauf: „Mir kommt das so gekünstelt vor ... Immer sitzen sie da und sind steif und glücklich, dann saufen sie, dann passiert irgendeine Katastrophe und es tanzen irgendwelche Gespenster der Vergangenheit, und schließlich zerfleischen sie sich wie Zombies.“
In der Tat. „Tod in Venedig“ wird „gegeben“, schreibt Thomas Melle und wählt gewiss nicht zufällig eine altmodische Wendung für ein neumodisches Fiasko. „Die Darsteller hatten, so kam es Jan jedenfalls vor, echten Sex auf der Bühne.“ Später „steckten (sie) sich anscheinend gegenseitig den Finger in den Po und formten einen Ringelreigen. Etwas Alberneres hatte Jan noch nie gesehen. Er regte sich still auf und guckte weg.“ Auch Kathrin, erfahren wir eine Weile später, hat den Theaterabend „gehasst“, sie „konnte es aber nicht zugeben, denn die feinen Unterschiede waren fast das Letzte, was sie noch hatte in diesem Grabenkrieg ohne Schüsse, ohne Schlacht. Es war wirklich albern gewesen, diese Übersexualisierung als Kindergarten, dieses anale Einrennen offener Türen; aber dass die Kulturlandschaft wirklich so banal und trist war, wie Jan in seiner Ignoranz plump erkannte, wieder und wieder, das konnte sie sich und ihm nicht eingestehen. Das war eine ihrer letzten Bastionen.“
In die kurzen Kapitel des ersten Teils wird das mit Unterbrechungen eingebaut, zweifellos kalkuliert, aber immer auch so, dass es fahrig erscheint. Viele Baustellen, wie Jan und Kathrin und die meisten von uns wohl sagen würden, sozusagen all die Leute, die nicht auf Baustellen arbeiten. Jan, Kathrin und der Theaterbesuch aber sind ein perfekt gewählter Schlüssel zu Thomas Melles neuem Roman.
Erstens ist es ein ziemlich realistischer Blick auf einen Teil des aktuellen Inszenierungsgeschehens, der längst an sein Ende gelangt ist und doch beherzt fortgesetzt wird. Jan und Kathrin werden nicht davon überrascht und erst recht nicht provoziert. Sie sind bloß genervt. Bürgerliches Publikum in einer halbwegs großen Stadt, dieser Tage.
Zweitens hat sich Kathrin allerdings selbst soeben in eine „Übersexualisierung als Kindergarten“ begeben. Kathrin und die Sehnsucht nach Sex führen zu dem ersten Romansatz „Und der Vogel besprang den Vogel“ und zu dem subtil unsubtilen ersten Kapitelsatz „Der Clown kam nicht“. Denn Kathrin mag Tierfilme und besonders Tierfilme mit Sex, und sie besucht gegen ihre Gewohnheit eine Sexparty, jedoch: „Zwischen der Vorstellung einer Sexparty und deren Wunscherfüllung lagen Welten. Sex war immer nur eine schlechte Kopie der ihm vorgeschalteten Fantasien; das kannte sie schon von Jan, das kannte sie von den meisten seiner Vorgänger; das kannte sie von sich. Eine Radikalisierung bräuchte sie, auch hier, ein Ausreizen der Grenzen bis ins Absurde, die Körper neben ihr, diese Zweier, Dreier und Vierer, die sich gegenseitig benutzten und rieben und stießen, sie waren noch viel zu bürgerlich eingehegt und geschmackvoll, dachte sie, waren sich ihrer selbst viel zu bewusst.“
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https://www.fr.de/kultur/literatur/thoma...m-91773495.html
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