Thomas Hettche: Sinkende Sterne
Der Berliner Schriftsteller hat ein großartig komlexes Buch voller Erinnerungen, essayistischer Passagen und Landschaftssagen geschrieben. Damit setzt er sich auch gegen den ideologisch getönten Missbrauch der Literatur zur Wehr.
Von Christoph Schröder
Im Grunde genommen ist alles wie früher und doch ist es anders. Der Ich-Erzähler, der sich bald darauf als Schriftsteller mit dem Namen Thomas Hettche herausstellen wird, nimmt die Autobahn in Richtung Süden, passiert in Basel die Grenze zur Schweiz, lässt den Thunersee links liegen und kommt schließlich im Kandertal an, wo das Auto auf einen Zug verladen wird, um durch den Lötschberg transportiert zu werden.
In seiner Kindheit, so erinnert sich der Erzähler, habe er diese Fahrt geliebt; das Durchgerütteltwerden auf den Gleisen; den Augenblick, in dem am Ende des Tunnels Licht aufscheint. Doch dieses Mal ist die Atmosphäre bedrohlich, unheimlich. Dieses Gefühl wird den gesamten Roman begleiten. Uniformierte mit Maschinenpistolen patrouillieren entlang des Zuges. Die Einreise ins Wallis, so sagt einer der Soldaten durch das Seitenfenster, sei streng reglementiert, und der Ich-Erzähler beeilt sich, den Brief durch das Fenster hinauszureichen, der ihn legitimiert.
Diese beklemmende Szene ist der Auftakt zu Thomas Hettches neuem Roman, der seine Leser zunächst leise, aber zunehmend auf umso eindringlichere Weise in eine Welt hineinzieht, die durchaus als eine realistische angeschaut werden kann, die aber trotzdem haarscharf neben der Wirklichkeit angesiedelt ist.
„Sinkende Sterne“, so hat Thomas Hettche es in einem Gespräch erzählt, sei ein Roman, der in einem schmerzhaften Prozess der Selbstbefragung entstanden sei. Eine Art von Zwischenbilanz eines Schriftstellers, eine Reflexion darauf, was das Schreiben, was Literatur, was Kunst bedeuten und bedeutet haben.
Mit dem Genre der Autofiktion, wie es derzeit in der Gegenwartsliteratur verstanden wird, hat Hettches Roman kaum Berührungspunkte, im Gegenteil: Er ist ein subtiler, weil ästhetisch aufgeladener Angriff auf identitätspolitische Auswüchse, hat aber zugleich die eigene Verantwortung dafür im Blick.
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/thoma...t-10452832.html
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