Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“
Antje Rávik Strubel erzählt in ihrem Roman „Blaue Frau“ auf verschlungenen Wegen von einer Vergewaltigung.
Um Macht und Machtmissbrauch, um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dreht sich der komplexe Roman „Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel. Der Kern, um den sich ein lautloser Wirbel, eine stille Explosion entwickelt – etwas in dieser Art scheint das keineswegs blaue Umschlagbild des Buchs zu zeigen –, besteht offensichtlich (aber letztlich unausgesprochen) in einer Vergewaltigung.
„Manchmal muss man Dinge tun, die einem nicht gefallen, weißt du“, sagt der Mann, der die entsprechende Situation für einen anderen Mann einfädelt. „Ich nicht“, sagt die Frau, die soeben mit einem jähen Erschrecken gemerkt hat, dass hier etwas nicht stimmt. „Davon stirbt man nicht“, sagt der Mann, der es einfädelt. „Sind solche Anschuldigungen im Moment nicht sehr in Mode?“, fragt die Frau, der sich die vergewaltigte Frau direkt danach anvertraut.
Sie kennen sich alle nicht besonders gut, wobei die Frau, der sich die vergewaltigte Frau anvertraut, mit dem offensichtlichen Vergewaltiger zumindest etwas besser bekannt ist, ihm vertraut, ihn schätzt. Der Vergewaltiger ist ein deutscher Kulturmensch und Multiplikator. Die Frau, die findet, dass solche Anschuldigungen im Moment sehr in Mode sind, ist Schweizerin. Die Frau, die offensichtlich vergewaltigt worden ist (der Multiplikator „multiplizierte den Schmerz“, denkt sie), ist eine sehr junge Tschechin.
Das ist nicht unwesentlich. Eine sehr junge Tschechin zu sein, stellt die sehr junge Tschechin fest, kann unsichtbar machen oder auf eine Art sichtbar, in der sie nicht sichtbar sein will. Sie selbst will einfach sie selbst sein, so sehr sie selbst und damit nicht einzuordnen, dass sie auch nicht als Frau oder Mann bezeichnet werden will. Soll sie sich an den Notdienst für Frauen wenden? „Sie wird eine Frau in Not sein. Dabei ist sie nie in ihrem Leben jemals eine Frau gewesen. Jedenfalls hat sie nie auf diese Weise an sich gedacht, ,kleiner Mohikaner‘. Sie ist auch kein Mann. ,Nur um das klarzustellen‘, sagt sie laut. Aber da ist niemand, der das in Zweifel zieht.“ Sie wendet sich nicht an den Notdienst. Vorerst nicht.
Kleiner Mohikaner“ wird sie in einem Chatroom genannt, der „Rio“ heißt und in dem sie sich als Jugendliche wohlgefühlt hat. Hier ist sie gesehen worden, wie sie gesehen werden möchte, den Namen Mohikaner hat sie sich selbst gegeben. Sie heißt Adina, wie Wedekinds Lulu bekommt sie aber neue Namen, Sala, Nina, probeweise auch Alexina. Die einen geben ihr einen neuen Namen, weil sie sie lieben, die anderen, weil sie zu faul sind, sich ihren richtigen Namen zu merken. Adina macht sich nicht viele Gedanken um sich. Die hippe Berliner Fotografin Rickie, die sie nett und offenherzig ausnutzt, sagt zu ihr: „,Du fühlst dich doch nicht ausgenutzt.‘ Da lachte sie, weil es nichts gab, was an ihr auszunutzen gewesen wäre.“
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https://www.fr.de/kultur/literatur/antje...t-91045599.html
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