Lass die Hühner los
Ex-„Titanic“-Redakteur Christian Y. Schmidt hat ein Kinderbuch für Erwachsene geschrieben, in dem es um offene Rechnungen und den Tod geht
Bisweilen sitzt man als Rezensentin vor einem Buch, das sich allen bekannten Genres entzieht. Zum Glück hilft im Falle von Christian Y. Schmidts Der kleine Herr Tod der Klappentext erläuternd weiter. Es handelt sich, so verrät dieser, um ein Kinderbuch für Erwachsene. Nur widmet sich der Autor diesem Thema nicht etwa in der Großform, dem Roman, sondern eben im Kleinen. Aber von vorn, beginnen wir bei der Story: Schmidts Protagonist, der kleine Herr Tod, schrubbt seit gefühlten Äonen seinen Job als Todbringer. Da ereilt ihn ein Schicksal, das jedes Subjekt des 21. Jahrhunderts akut bedroht: das totale Burn-out. Kein Wunder, hat man ihm doch den undankbarsten Job überhaupt zugeteilt. Er muss Hühner um die Ecke bringen. Das macht allein in Deutschland rund 650 Millionen zu transferierende Seelen jährlich, zu fluffigem Hühnerkonfetti zerhäckselte Küken eingerechnet. Es gibt immer etwas zu tun, so viel, dass sogar sein Chef, Herr Hades, seinem treuen Diener einen Urlaub gönnt. Aber wo macht man als Hühnermörder Urlaub? Bestimmt nicht in Niedersachsen. Man fliegt vielmehr nach Rio de Janeiro, wo der Auferstandene, der Einzige, der über den Tod gesiegt hat, überlebensgroß seine Arme ausbreitet.
Dort landet der kleine Herr Tod und sieht den „Bücherfluss, der Amazonas heißt, wegen dieser Buchhandlung im Internet“, wie der Erzähler kalauert. Eben jene Internetbuchhandlung bezeichnet mein Lieblingsbuchhändler gerne als „den großen Satan“, aber das nur am anekdotischen Rande. Vom großen Satan ist der Weg nicht weit bis zur Hölle, noch kürzer ist er bis zum größten Widersacher unseres kleinen Protagonisten. Johnny Hypnos heißt er und sonnt sich gerade am Strand von Rio. Als sei das nicht schlimm genug, tut er das auch noch mit der heimlichen Liebe des „petite mort“, der unvergleichlich wundervollen Lydia Lilith. Vor der Flucht aus der Eifersuchtshölle bewahrt unseren Helden nur ein Konzert seiner Metal-Heroen: Sepultura spielen live in der City of Rock. Wer sie nicht kennt: Die Herren sind Legenden des Death Metal und unterhalten ihr langhaarschwingendes Fan-Volk (in wechselnden Besetzungen) mit so lebensbejahenden Titeln wie Dead Embryonic Cells. Nun ja, irgendwie auch nur eine Bezeichnung für Hühnereier. Jedenfalls heißt es im Song: „Laboratory sickness / Infects humanity / No hope for cure / Die by technology“. Beinahe eine Elegie auf das Coronavirus, das – wie man aus garantiert seriösen Internetquellen erfahren kann – aus einem chinesischen Labor entfleucht ist.
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