Enno Stahl: Sanierungsgebiete
Punk war mal
Enno Stahl glaubt noch an die Solidarität in Zeiten der Gentrifizierung
Als besonders politisch und kapitalismuskritisch galt die deutsche Gegenwartsliteratur lange nicht, insofern stechen die Bücher von Enno Stahl heraus. In seinem Romanzyklus Turbojahre beschreibt der 1962 geborene Autor Leben und Leiden im Spätkapitalismus, etwa in Winkler, Werber (2012), wo er die krisengeschüttelte Arbeitswelt auslotet, oder in Spätkirmes (2017), das von den reaktionären Abgründen in der westdeutschen Provinz erzählt. In seinem neuen, 600 Seiten dicken Roman Sanierungsgebiete widmet sich Stahl dem derzeit wohl meistdiskutierten sozialpolitischen Thema: der Gentrifizierung. Angesiedelt ist der Roman im berühmten Prenzlauer Berg, der nach der Wende eine radikale immobilienwirtschaftliche Aufwertung inklusive der damit einhergehenden sozialen Verdrängung erlebt hat. Auch der diesjährige Buchpreisgewinner der Leipziger Buchmesse, Anke Stellings Schäfchen im Trockenen, handelt übrigens davon, bei Stelling zerbrechen Freundschaften zwischen denen, die ihre Schäfchen ins Trockene bringen, sich nach den wilden Jahren in die Eigentumswohnung retten, und der Protagonistin des Romans, die gucken muss, wo sie bleibt.
Sanierungsgebiete ist zwischen 2009 und 2011 angesiedelt, der Roman fächert ein zeitgenössisches Panorama großstädtischer Lebenswelten auf, vor allem im zunehmend angesagten Prenzlauer Berg. Es geht aber auch immer wieder nach Neukölln, das zu dieser Zeit die immobilienwirtschaftliche Schockoffensive noch vor sich hat, oder hinaus ins beschauliche Brandenburg. Dass die drei Hauptpersonen ehemalige Ost-Berliner Punks sind, die wegen alter Mietverträge in günstigen und großen Wohnungen zumeist mitten im titelgebenden heiß umkämpften Sanierungsgebiet leben, illustriert, wie sehr sich Klientel und Milieu eines Viertels durch immobilienwirtschaftliche Aufwertung verändern.
Donata, Ende dreißig, alleinerziehend, arbeitet bei einer Gewerkschaftszeitung, schreibt über steigende Mieten und soziale Verdrängung und erlebt im Lauf des Romans selbst einen Karriereschub, da sie sich in der Hierarchie der SPD, einer Partei, die damals in Berlin noch Garant politischer Macht war, langsam nach oben arbeitet. Ihr ehemaliger Lover Otti forscht jenseits akademischer Zwänge über die politisch-literarische Boheme zu Beginn des 20. Jahrhunderts und engagiert sich in radikalen politischen Kämpfen gegen den Ausverkauf seines Viertels. Der weitaus proletarischere Stone, der in den 1980ern ebenfalls am Kollwitzplatz um die Häuser zog, lebt mittlerweile in Neukölln, wo er für einen Buchmacher arbeitet und von den guten alten Zeiten träumt. Stahls eigentlicher Protagonist ist natürlich die Stadt Berlin selbst, deren Coming-of-Age-Geschichte im spätkapitalistischen Verwertungsprozess. Neben Urgesteinen aus Prenzlauer Berg spielen auch Zugezogene eine zentrale Rolle, so die junge Lynn aus dem Rheinland, die Architektur studiert, ihre Abschlussarbeit über das Sanierungsgebiet rund um Kollwitz- und Helmholtzplatz schreibt, im Architekturbüro beim Praktikum gnadenlos abgezockt wird und schließlich als Aktivistin im akademisch geprägten Teil des Anti-Gentrifizierungs-Kampfes landet. Dessen militanter Flügel wird aber ebenso in Szene gesetzt, sodass alle naselang Autos oder auch mal Baustellen brennen, worüber von militanten Aktivisten im Hinterzimmer des linken Kiez-Buchladens diskutiert wird. Es tauchen aber auch gut situierte Neu-Berliner auf, wie der Eigentümer von Ottis Haus, der seinen Altmieter loswerden will, dafür eine Gruppe Skinheads vorbeischickt. Aber so einfach lassen sich die von Verdrängung bedrohten Altbewohner des Kiezes nicht verscheuchen, auch wenn sich der eine oder andere den Auszug aus dem Altmietvertrag vergolden lässt. Dass der alte Kiez mit seinen neuen Restaurants und schicken Boutiquen immer unattraktiver wird, merken sowieso die Hartgesottensten.
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