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Enno Stahl: Spätkirmes

#1 von Sirius , 25.05.2022 15:54

Enno Stahl: Spätkirmes

Enno Stahl skizziert mit „Spätkirmes“ ein Panorama desolater Dörflichkeit ohne Aussicht auf Veränderung

Die Provinz, die westliche zumindest, gilt derzeit als Hort allen Übels. Sie wird verantwortlich gemacht für den Brexit, für Trump und für das Erstarken der AfD. Die Dörfer, so scheint es, sind voll von Pegida-Sympathisanten und Front-National-Wählern. Wobei: Voll sind sie eigentlich nicht, denn viele sind weggezogen. Wer geblieben ist, ist alt. Und wer nicht weggezogen und nicht alt ist, muss zumindest ungebildet sein. Kurz: Die Provinz gilt als reaktionär, gewalttätig, kleinkariert und kulturfern. Sie ist, wenn man so will, ein leises, alltägliches, beharrliches Sodom und Gomorra.

Enno Stahl, 1962 geboren, Romancier und Literaturwissenschaftler, ist als einer der wenigen wirklich politischen Köpfe im deutschsprachigen Literaturbetrieb bekannt. Er hat nun einen Roman geschrieben, der in den kleinstädtischen Schmelztiegel hinabsteigt, die Spätkirmes nämlich, die dem Roman auch den Titel leiht. Die Kirmes, von der Stahl erzählt, feiert das 175-jährige Jubiläum des örtlichen Schützenvereins im (fiktiven) Kirchweiler, braucht aber eigentlich keinen Anlass und könnte überall sein: Sie ist Tummelplatz besoffener Schützen, sie schmeckt nach Altbier und Bratwurst, sie klingt nach Stammtischgesprächen und „Schatzi, schenk mir ein Fotooo“-Musik. Und sie ist vor allem das große Ereignis im Ort.

Deswegen, auch deswegen, betrifft die Kirmes natürlich auch die Hauptfigurenschar des Buches. Als da wären: Hannes, der als Zugezogener buchstäblich ortsfremd ist, Juniorprofessor für Literaturwissenschaft in Düsseldorf, vom Karriereknick und dem Abstieg ins akademische Prekariat bedroht. Mit seiner Frau Meta, studierte Ernährungswissenschaftlerin und schlechtbezahlte Projektjobberin, befindet er sich in einer ständigen Auseinandersetzung, in der es weniger um Gefühle als um Leistung geht. Dass sie noch zusammen sind, hängt mit ihrer Tochter zusammen, der fünfjährigen Cora, und vielleicht auch mit der Kreditlast, die sie drückt. Erzählerisch begleitet wird außerdem noch Bob, ein 14-jähriger „Scheiß-Spasti“, der regelmäßig von den anderen Jugendlichen durchs Dorf geprügelt wird. Als Mobbing Queen tut sich dabei die zwölfjährige Jeanette hervor, eine, so Bob, „Scheißdrecks-Fick-Nutte“, die pöbelnd und gelangweilt mit ihrer Komparsin Mandy durch Kirchweiler zieht.

Für einen Roman von gut 200 Seiten sind das ziemlich viele Protagonisten, zumal sich Enno Stahl bemüht, seine Figuren reichlich zu Wort kommen zu lassen. Eine klassische Erzählerstimme hört man in Spätkirmes deswegen eher selten – und wenn, dann wird sie schnell abgelöst von den langen inneren Monologen oder den vielen Gesprächen. Die Vielfalt von Stimmen und Perspektiven sorgt für die Atmosphäre des Buchs, eine erdrückende Atmosphäre voller erdrückter Figuren. Sie alle sind irgendwo gefangen: In ihrer Stimmung, in ihren Sorgen, in ihren Konsumansprüchen, in ihren Lebensmustern, in ihrer Herkunft.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/landfrust


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Sirius
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