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Ulrike Edschmid: „Ein Mann, der fällt“

#1 von Sirius , 30.05.2022 16:31

Ulrike Edschmid: „Ein Mann, der fällt“

 In „Ein Mann, der fällt“ verfeinert Ulrike Edschmid ihre Mischung aus Biografie, Fiktion und Zeitgeschichte weiter

Die Welt ist alles, was der Fall ist“, lautet der erste Satz in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Hätte sich ein Fließenleger nicht in diesem Traktat verloren, sondern wäre zum verabredeten Renovierungstermin erschienen – oder hätte die Ich-Erzählerin ihrer Flugangst nachgegeben und wäre in Berlin geblieben –, dann wäre der namenlose Protagonist in Ulrike Edschmids neuem Roman Ein Mann, der fällt nicht von der Leiter gefallen und hätte sich diese folgenreiche Verletzung nicht zugezogen. Das Paar wäre, ganz wie es Wittgenstein in seiner Schrift insinuiert, nicht gezwungen gewesen, die sorgsam aufgebaute Beziehungsleiter, deren nächste Sprosse es gerade mit der neu gemieteten renovierungsbedürftigen Altbauwohnung erklimmt, wegzuwerfen, um ganz von vorne zu beginnen.

Hätte, wäre, könnte. Schicksal oder Zufall. Im Berliner Geschehensraum von 1990, als sich dieser banale und zugleich schreckliche Hausunfall ereignet, hat er Bedeutung nur für das Paar, und er wird mit all seinen Folgen erst in der Vorstellung der nicht anwesenden Erzählerin zu einer literarischen Realität. Während sie bereits wieder im Flugzeug nach Berlin sitzt, vergegenwärtigt sie sich ihren Partner noch „in fliegender Jacke, mit weit ausholenden Schritten, die Hände in den Hosentaschen. Er läuft mir entgegen“. Doch er liegt bewegungsunfähig im Krankenhaus, ein stummer Körper, der nur noch bis zur Brust erspürt werden kann und an Schläuche gefesselt ist. Sich in den Mann hineintastend, erlebt die Frau den Sturz, seine Hilflosigkeit. Stauchung des Rückenmarks, werden die Ärzte diagnostizieren, die Prognosen sind bescheiden.

Schicksalhafte Wendepunkte sind im Werk von Ulrike Edschmid keine Seltenheit. Ihre Werke bewegen sich oft an der Nahtlinie zwischen Biografie, Zeitgeschichte und Fiktion. So auch in ihrem viel gelobten und preisgekrönten letzten Roman Das Verschwinden des Philip S., in dem sie sich an einen jungen Filmstudenten wieder annäherte, der sich in den früher 1970er Jahren der Bewegung 2. Juni angeschlossen hatte und bei einer Schießerei mit Polizisten ums Leben kam.
Dabei sind es die kleinen Momente, die das Leben der Protagonisten auf eine neue Spur setzen: der Moment des Untertauchens des aus einer wohlhabenden Zürcher Familie stammenden Philip Sauber, der kurze Gefängnisaufenthalt, der seine damalige Gefährtin trotz aller Komplizenschaft die selbst gesteckte Grenze nicht überschreiten ließ.

Weiterlesen:

https://www.freitag.de/autoren/ulrike-ba...tzen-zur-person


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Sirius
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