Anne Tyler: „Eine gemeinsame Sache“
Als die Kinder aus dem Haus sind, versucht Mercy, ein wenig eigenes Geld zu verdienen, indem sie Porträts von Häusern malt. Aber nicht etwa Ansichten von außen, von vorne, der Straße aus, wie man es erwarten könnte. In jedem Haus möchte sie den ganz besonderen, gleichzeitig charakteristischen Ausschnitt finden. „Für ihr Porträt des Shepard’schen Hauses wählte Mercy die obere Diele und legte das Hauptaugenmerk auf die Standuhr, die ihren Platz zwischen zwei Schlafzimmertüren gefunden hatte.“ Sie bemerkt, dass jemand am Fuß des Gehäuses der von den Shepards in einem Antiquitätenladen gekauften Uhr Initialen ins Holz geritzt hatte. „Natürlich bezog Mercy die Buchstaben in ihr Porträt ein.“ Ihren Kunden fällt das gar nicht auf. Oder jedenfalls sagen sie nichts zum fertigen Bild, als dass es ihnen gefällt.
Anne Tyler, geboren 1941 in Minneapolis, Minnesota, ist eine schreibende Mercy. Bestimmt hat sie im Leben ihrer Figuren erstmal in alle Ecken geschaut – so fühlt es sich jedenfalls an, als wisse sie genau, was diese Figuren machen in der Zeit, in der sie nicht auftreten in ihrem Roman. Sorgfältig hat sie dann ausgesucht, was uns mit ihnen bekannt machen soll. Es sind unspektakuläre, alltägliche Dinge. Der Moment in einer Beziehung, als diese schon leicht ranzig wird. Ein Familienessen. Ein Besuch der Enkelin. Eine Bahnfahrt. Ein Tod – wie auch nicht, der Tod gehört dazu.
Und eine Pandemie, die schließlich ganz selbstverständlich in einem Jahrzehnte überspannenden Buch auftaucht, das auch im Original (betitelt „French Braid“) erst in diesem Jahr erschienen ist, in Übersetzung nun als „Eine gemeinsame Sache“. Mercy, die Malerin, die sich lange mit der traditionellen Hausfrauenrolle begnügte, will mehr, als David, der Jüngste, das Studium beginnt. „Du musst nicht wirklich arbeiten gehen“, sagt Mercys Mann Robin. Könnte sein, sagt sie vorsichtig, dass sie nun ab und zu auch im Atelier übernachten wird, so im Eifer der Arbeit und damit sie nicht im Dunkeln nach Hause gehen muss. „Mercy“, fragt Robin, „verlässt du mich?“ Nein, beteuert sie, aber zwischen den Zeilen steht anderes, steht bei Anne Tyler sehr oft anderes. Mercy verlässt ihren Mann, Schritt für winzigen Schritt: „denn das Problem war, dass er nichts, überhaupt nichts verstand. Er hatte keinen blassen Schimmer.“ Beide werden nie darüber reden, nicht den Kindern gegenüber, nicht einmal untereinander.
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