Sirene, Sahara, halbierte
Lassen Sie sich von der Lyrik verstören und verführen. Die wichtigsten Neuerscheinungen im Überblick
Es ist irritierend, wie verunsichert wir sind. Aber es ist auch gut, wenn die Verunsicherung von Gedichten ausgeht, kann sie unser gewohntes Denken und Sprechen in Frage stellen. Gedichte können Offenheit erfahrbar machen, Blicke weiten, Erkenntnis ist möglich, Abweichung produktiv. Paul Celan dichtet in dem 1963 erschienenen Band Die Niemandsrose: „Weißt du, der Raum ist unendlich“. Gemeint ist der grenzenlose Raum des poetischen Worts.
Die Idee von der Unendlichkeit des poetischen Raums findet sich wieder in Mondbetrachtung in mondloser Nacht, einem Band von Marion Poschmann, der ihre Reflexionen über Sprache und Dichtung versammelt. Im Vorwort zu dieser Sammlung von Reden und Artikeln heißt es: „Dichtung vollbringt das Unmögliche. Sie evoziert Bilder im Raum, hält die flüchtige Welt für Momente fest, lässt das Unsichtbare sichtbar werden, stellt Bilder in einen Raum, den es vorher nicht gab. Und sie lässt uns umgekehrt fragen, in welchem Raum eigentlich das stattfindet, was wir für unsere Alltagswelt halten.“
Was Poschmanns prägnante Definition – „Dichtung stellt Bilder in einem Raum, den es vorher nicht gab“ – konkret bedeutet, lässt sich am jüngsten Gedichtband der 1969 geborenen Autorin studieren. Der Band brachte Poschmann, die in schöner Regelmäßigkeit abwechselnd einen Roman, dann wieder Gedichte veröffentlicht, auf die Shortlist der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik.
Der Titel Geliehene Landschaften spielt auf ein traditionelles Stilelement der ostasiatischen Gartenkunst an. Eine Szenerie außerhalb der Gartenanlage, etwa ein Berg oder ein Gebäude, wird bewusst in die Gestaltung miteinbezogen. Dadurch weiten sich die Dimensionen des Raums. Poschmann weitet den Raum immer wieder neu in ihren Elegien und Lehrgedichten – „Landschaft, o Sprachpanorama des Logos creator / Landschaft, halbierte, in Vorder- und Rückseite. Wie der Raum nachgibt und Dinge hervorlockt: Dauerwald. Freiflächen. / Vormals und jetzt“ („Bastard“).
Dass Geliehene Landschaften auch auf die viel beschworenen „blühenden Landschaften“ anspielt, machen die Orte deutlich, an denen die Gedichte angesiedelt sind: Viele von ihnen liegen in Osteuropa, aber auch der „Kindergarten Lichtenberg“ wird zum Schauplatz eines Lehrgedichts, in dem Poschmann aus Architektur-, Natur-, Landschafts- und Erinnerungsmosaiksteinchen einen Raum der erlebten, erinnerten, erforschten, vielleicht aber auch nur ersehnten Kindheit nachbildet. Doch nicht nur Osteuropa, auch Japan und Finnland gehen in die Gedichte ein.
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