Ian McEwan: "Lektionen"
Der Roman "Lektionen" des Briten behandelt die Folgen eines Kindesmissbrauchsfalles – und liefert einen Gesellschaftsabriss
Im Alter von 14 Jahren widerfährt dem Internatsschüler Roland das größte Unglück seines Lebens. Dabei erfüllt sich für ihn auf den ersten, unbedarften Blick ein feuchter Bubentraum. Der Sohn eines britischen Armeeoffiziers wird von seiner Klavierlehrerin verführt.
Die zehn Jahre Ältere zerrt den Burschen – der sich die Zumutung nur zu gerne gefallen lässt – nicht nur in ihr Bett, sie verschlingt ihn mit Haut und Haar. Nimmt ihn von der Schule, hüllt ihn in Pyjamas, ernennt ihn zu ihrem alleinigen Besitz, zu ihrem Liebessklaven. Man schreibt das Jahr 1962. Die Kubakrise hält die Welt mit der Perspektive eines unmittelbar bevorstehenden Atomkriegs in Atem. Doch Romanautor Ian McEwan, ohnehin ein Meister der Detailskizze, evoziert mit wenigen Federstrichen die subkutane Atmosphäre eines ganzen Kontinents im Umbruch.
Die erste der titelgebenden Lektionen besteht in der Verfeinerung der Wahrnehmung. Roland Baines, Spross eines trinkfesten Armeeoffiziers mit Stationen in Libyen und Deutschland, gewahrt an der Frau, die ihn missbrauchen wird, den "schweren, süßlichen Geruch": hart "wie ein abgeschliffener Flusskiesel". Es ist der letzte Eindruck von Härte in einem zusehends "weicher" werdenden, durchlässigen Zeitalter. Von nun an schmilzt nicht nur im Vereinigten Königreich der Vorrat an Gemeinsamkeiten, von vorgegebenen Rollen und ethischen Normen, wie Margarine in der Pfanne.
Der Brite Ian McEwan war zuletzt als Satiriker im Einsatz, mit dröhnender Skepsis zum Beispiel auf den Spuren künstlicher Intelligenz (Maschinen wie ich). Es verwundert nicht weiter, dass seine besondere Abneigung dem Brexit gilt. Doch jetzt, im Reifealter des alles könnenden Autors, knetet er noch einmal den sauren Teig des Epochenstoffes. Er bewegt sein Alter Ego Roland – die Figur ist genauso alt wie er – im allergemächlichsten Tempo durch das zerfallende, sich wieder regenerierende Merry Old England.
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