Ian McEwan: Kindeswohl
Der neue Roman von Ian McEwan behandelt wieder die ganz großen Fragen. Nun steht eine Richterin vor einem Urteil über Leben und Tod
Macht und Autorität üben eine unwiderstehliche Faszination auf viele Schriftsteller aus. Der britische Bestsellerautor Ian McEwan fühlt sich immer wieder fasziniert von den großen Institutionen: In Saturday war sein Protagonist ein angesehener Neurochirurg, in Solar ein Physiknobelpreisträger. In Honig war es eine MI5-Agentin, und in seinem neuen Roman Kindeswohl ist es eine Richterin am High Court von London. Früher oder später dürfte McEwan auch ein Buch über Politiker schreiben oder vielleicht über die Finanzwelt. Aus den Danksagungen in seinen Romanen spricht aufrichtige Bewunderung für die jeweiligen Experten, die er befragt hat, und sein Umgang mit Details aus deren Welten ist klug. Er versteht es, einen beiläufigen Insiderton anzustimmen. Ob tatsächlich Eingeweihte das auch finden – was sagen Klimaforscher zu Solar oder Geheimagenten zu Honig? –, spielt keine Rolle, denn Experten sehen den Wald vor lauter Bäumen ohnehin oft nicht. McEwans Ehrgeiz besteht darin, diesen Wald zu zeigen. Das meint: die komplexen Wirkungsweisen institutionalisierter Macht.
Sein Interesse an der Arbeit von Richterin Fiona Maye springt den Leser förmlich an: „Im Familienrecht wimmelte es von seltsamen Unterscheidungen, unerwarteten Widerlegungen, intimen Halbwahrheiten, exotischen Anschuldigungen … es galt feinkörnige Eigentümlichkeiten von Lebensverhältnissen in Windeseile berücksichtigen zu können.“
Die Romanhandlung setzt damit ein, dass eine private Krise Fiona aus ihrem Karrieretrott reißt. Ihr Ehemann Jack, Professor für Alte Geschichte, der ihr stets ein treuer und liebevoller Begleiter gewesen ist, verkündet, dass er eine Affäre haben möchte, und zwar mit einer 28-jährigen Statistikerin. Fiona und Jack sind Ende 50 und kinderlos. Er klagt, ihre Beziehung sei zu „nett und gemütlich“, sie verhielten sich eher wie Geschwister als wie ein Liebespaar und hätten seit „sieben Wochen und einem Tag“ keinen Sex mehr gehabt. Jack möchte Fiona nicht hintergehen, geschweige denn verlassen, er wünscht sich bloß, einmal im Leben eine „große leidenschaftliche Affäre“ zu haben. „Ekstase, bis kurz vor der Ohnmacht – kannst du dich daran erinnern?“ Fiona ist schwer gekränkt und empört. Als er auf seinem Wunsch beharrt, wirft sie ihn hinaus und lässt das Schloss der Wohnungstür austauschen. Auch Jack wird gedemütigt und steht nach wenigen Tagen zerknirscht wieder auf der Matte. Doch der Friede der Ehe ist nun so erschüttert wie Fionas Vertrauen in sich selbst und in ihre Arbeit.
Die Geschichte wird in der dritten Person, aber konsequent aus Fionas Perspektive erzählt. Ihre Gedanken kreisen meist um ihre Tätigkeit als Richterin. Nun würde ein realistischer Romancier – und am Anfang kommt das Buch wie ein realistischer Roman daher – üblicherweise gerade so viele berufliche Fragmente einflechten, dass die Erzählung authentisch wirkt, während sein Hauptaugenmerk auf dem Gefühls- und Beziehungsleben der Heldin läge.
Es heißt ja, die Form des Romans eigne sich besser, um subjektive Wahrnehmung zu schildern, als dazu Ideen oder abstrakte Argumente zu vermitteln. Doch geradezu heroisch wirft McEwan diese Regel über Bord. Eine Abfolge besonderer Fälle aus dem Familienrecht, mit all ihren faszinierenden Einzelheiten, juristischen Grundlagen und mit den großen Fragen, die sie aufwerfen, durchzieht den Roman als fester Bestandteil von Fionas Denken. Es gibt auch noch andere Exkurse, etwa zu Salzwiesen als Schutz gegen Überschwemmungen an der Küste, zur apokalyptischen Zukunftsvision eines Geologen oder zu Justizirrtümern.
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