Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht
Georgi Gospodinov zeichnet in seinem Roman "Zeitzuflucht" ein dichtes Bild Europas. Mit dem aktuellen Einmarsch Russlands in die Ukraine ist seine Dystopie teilweise bittere Wirklichkeit geworden.
Der bulgarische Autor Georgi Gospodinov erzählt in seinem neuen Roman "Zeitzuflucht" von einer Welt in naher Zukunft, die unserer nicht ganz unähnlich ist. Immer älter werden die Menschen. Alzheimer und andere Formen von Demenz verbreiten sich unaufhaltsam. Der Menschenkenner und Nostalgiker Gaustín eröffnet in Zürich eine "Klinik der Vergangenheit", um den Vergessenden Trost und einen sicheren Hafen in ihren eigenen Erinnerungen zu schenken. Jedes Stockwerk ist detailgetreu einem bestimmten Jahrzehnt nachempfunden, von den 1940er- bis 90er-Jahren. Mit typischen Möbeln, Tapeten, Musik, Gerüchen, Speisen, mit historischen Zeitungen und Fernsehsendungen.
Für die vom Gedächtnis Verlassenen ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart ein fremdes Land, die Vergangenheit ist ihre Heimat. Das einzige, was wir in so einem Fall tun können, ist, einen Raum synchron zu ihrer inneren Zeit zu erschaffen.
Limo und Kekse, Beatles und Knutschen. Keine Frage, eine zauberhafte Vorstellung ist es, mit allen Sinnen zurückzureisen in die Zeit der Kindheit und Jugend. Bildstark und überzeugend entwirft der Autor diese Welten. Gaustíns Idee geht auf: Menschen, die längst verschlossen waren, blühen wieder auf. Sie beginnen, zu reden. Sie genießen die Wärme der vertrauten Erinnerung. So geht es auch dem Ich-Erzähler, der Gaustín bei seinem Projekt unterstützt:
Ich bog sofort in Richtung Kinderzimmer ab. Ich warf mich auf das Bett, so wie ich war, mit Sakko und Schuhen, mit meinem 50-jährigen Körper, und ich landete in meinem Körper von acht Jahren inmitten der kitzelnden Fasern der Tagesdecke.
Der Roman braucht etwas Anlauf, um in Fahrt zu kommen, entfaltet dann aber seine imposante Größe und Dichte. Der verträumte, zarte Ton des Textes hat etwas Zeitloses, das zu allen erwähnten Jahrzehnten passt. Genial ist der Zufluchtsort, den Gospodinov erfindet. Der Reiz dieser Klinik leuchtet sofort ein - so liebevoll könnte man mit alten Menschen umgehen! Angeregt werden wir zu großen, melancholischen Fragen, wie: In welche Zeit würde ich zurückreisen? Wann war ich am glücklichsten? Und was sind meine Erinnerungen noch wert, wenn schon alle fort sind, mit denen ich sie erlebt habe?
Und dann bekommt das Buch eine politische, gesamteuropäische Dimension. Die Klinik wird zum Erfolg. Schon bald wollen auch die Gesunden der Gegenwart entkommen. Jedes europäische Volk stimmt per Referendum ab, in welches Jahr des 20. Jahrhunderts es zurückkehren will. In aufwändigen Reenactments werden historische Etappen nachgespielt. Darunter auch die dunklen: Massaker, Attentate, Kriege. Ende Februar schreibt Gospodinov sehr bedrückt in einem Gastbeitrag in der "Neuen Züricher Zeitung" über die Parallelen seines neuen Romans zur Gegenwart und dem Krieg in der Ukraine: "Wir waren sicher, es würde nicht wieder geschehen, nicht in Europa, wo man zwei Kriege erlebt hatte. Trotz aller Bücher und Filme, trotz aller Archive und Gespräche, es zeigt sich, dass wir vergessen haben."
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https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Rom...podinov102.html
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