Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
Judith Hermann, die in Interviews nie Privates preisgeben wollte und Fragen nach Eltern und Familie konsequent umschiffte, öffnet in ihrem neuen Buch plötzlich eine Tür in ihr Leben.
it ihrem Debüt "Sommerhaus, später" hat Judith Hermann 1998 eine ganze Generation in den Sog ihrer betörenden Sprache gerissen. Es folgten Erzählungsbände und Romane wie "Nichts als Gespenster", "Aller Liebe Anfang", "Lettipark" und zuletzt, 2021, "Daheim". Darin geht es um Rückzug und Nähe, Erinnerungen und Aufbruch. In ihren "Frankfurter Poetikvorlesungen", die sie im vergangenen Sommer hielt, tauchten diese Motive in einem ganz neuen Zusammenhang wieder auf. Veröffentlicht sind ihre Vortragsreden nun in dem Buch "Wir hätten uns alles gesagt".
Der poetische Judith Hermann-Sound hat immer etwas Schwebendes und Geheimnisvolles. Trotzdem ist Judith Hermanns Sprache klar und präzise. Häufig entziehen sich ihre Figuren der Welt, kämpfen mit dem Alleinsein und ihren Sehnsüchten, sind auf der Suche nach Liebe und Leben. Um Freundschaften, Beziehungen und familiäre Bindungen rankt sich Judith Hermanns Schreiben im Kern. Zurückzuführen lässt sich vieles davon, wie wir nun von ihr erfahren, auf ihre Kindheit.
Ich bin mit meiner Großmutter aufgewachsen, was man unkonventionell nennen könnte, möglicherweise wäre das für die Verhältnisse ein unverfängliches Wort. Wir lebten mit meinen Eltern also zu viert in Berlin Neukölln in einer weitläufigen, verwinkelten Altbauwohnung mit lichten, halblichten und dunklen Zimmern. (...) Niemand putzte. Alles war staubig. In der Küche sammelte sich das Geschirr, neben der Wohnungstür alte Zeitungen, leere Flaschen (...) Meine Mutter verdiente das Geld in der Familie.
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