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Doppelt statt zweimal allein? Darüber kann man sich streiten.
Die Sonne senkt sich langsam Richtung Westen, der Biergarten ist voll, die Gespräche an den Tischen vermischen sich zu einem Summen und Brodeln, und kaum ein Moment, in dem nicht jemand lacht. Eine unfassbar freundliche Kellnerin beantwortet jedes unauffällige Kopfheben mit einem Lächeln und rauscht herbei, als hätte sie nichts anderes zu tun. „Ich kriege alles mit“, sagt sie strahlend, und kurz blitzt die Frage auf, ob man ihr wünscht, dass das stimmt.
Es ist die Stunde, in der ein kleiner Präsident, angegriffen vom vollendeten Autokraten, in Washington unter Begleitung einer gesamteuropäischen Leibgarde mit dem werdenden Autokraten um die Existenz seines Landes ringt. Im Biergarten: eine schöne Stunde, einer dieser Momente, in denen die Glücklicheren sich erholen dürfen von dem, was sie wissen über die ganz unglücklichen Enden der Welt. An einem Zweiertisch sitzen eine Frau und ein Mann, befreundet seit vielen Jahren. Die Frau und der Mann bestellen Handkäse mit Musik.
Zur Erinnerung: Diese hessische Spezialität besteht aus einer dicken Scheibe gut gereiften Sauermilchkäses, der zwar noch in einigen hessischen Handkäsereien, vor allem aber in Sachsen hergestellt wird, was aber im Biergarten wohl kaum jemand weiß. Der Käse wird, als gelte es, seinen Eigengeschmack zu übertönen, mit „Musik“ übergossen, welche aus nichts anderem besteht als Essig, Öl, zahllosen Zwiebelwürfelchen sowie Pfeffer und Salz. Ob die Bezeichnung „Musik“ den gewöhnlichen Folgen des Genusses geschuldet ist oder nicht, bleibt dem Internet zufolge umstritten. In Hessen trinkt man gerne vergorene Äpfel dazu, aber der Mann am Zweiertisch sagt, das sei ihm doch des Guten zu viel, und bestellt ein Bier, als würde das etwas ändern.
Die Kellnerin sagt, die Frau und der Mann könnten statt zweier einzelner Portionen Handkäse eine doppelte bestellen, das spare etwas Geld, aber der Mann lehnt fast empört ab. So kommt das Gespräch auf Themen wie Futterneid im Rahmen kinderreicher Familien, erzwungenes Aufessen unter der Aufsicht von Müttern, die noch Hunger erlebt haben, und schließlich auf jene Weitergabe schlimmer Erfahrungen an Kinder und Kindeskinder, die man heute „transgenerationale Traumata“ nennt.
Nun sagt die Frau am Zweiertisch, sie verstehe nicht, warum ein Land trotz der Traumata, die es einst über sich und andere gebracht hat, heute mit Schutz suchenden Menschen so kalt umgehe. Vielleicht, antwortet der Mann, weil uns der Blick auf das Trauma der anderen beim Verdrängen stört.
https://www.fr.de/kultur/timesmager/dopp...n-93896133.html
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