Das Eintauchen der Ruder
Der See liegt schweigend vor mir. Ich habe keine Ahnung wie lange ich hier schon stehe, mich hat eine seltsame Form von Zeitlosigkeit ergriffen. Es ist als bliebe der Moment ewig, als gäbe es kein weiter oder morgen oder nächstes Jahr. Nur die Bewegung der sich leise kräuselnden Wellen auf der dunklen Wasseroberfläche zeigen mir, dass die Welt niemals stillstehen kann.
Am Ufer trompetet ein einsames Blesshuhnweibchen sein „krök, krök“ in die Abendluft, irgendwo in der Ferne erkenne ich die Umrisse zweier Boote, die in das Dunkel gleiten. Plötzlich kommen die Erinnerungen an meinen Großvater, jenen stattlichen Mann mit seinem vollen schlohweißen Haar und den gütigen braunen Augen, die so gerne auf mir ruhten und in denen ich lesen konnte wie in einem Buch.
Er stammte aus Masuren aus einem kleinen Dorf namens Seegutten, nicht weit entfernt vom Spirdingsee. Heute heißt der Ort Nowe Guty und der See trägt den Namen Jezioro ?niardwy. Ich finde, das klingt geheimnisvoller als Spirdingsee, aber mein Großvater benutzte konsequent den deutschen Namen, darin war er eigen.
Abends brachte er mich ins Bett, weil meine Mutter zu der Uhrzeit meist bedienen musste in unserem Dorfgasthof. Mutter und er lebten unter einem Dach seitdem Großmutter gestorben war und mein Vater es vorgezogen hatte, das Weite zu suchen. Die Ereignisse fielen zeitlich zusammen, daher lag es nahe, dass sich Vater und Tochter von da an die Miete des kleinen Siedlungshäuschens am Rande von Carwitz teilten.
Ich liebte diese abendlichen Stunden mit meinem Großvater, wenn ich mir die Bettdecke mit der himmelblauen Frottee-Bettwäsche und den bunten kleinen Flugzeugen darauf bis zur Nasenspitze hochziehen konnte und er es sich in dem verschlissenen grünen Sessel gegenüber von meinem Bett gemütlich machte. Das große Zimmerlicht hatten wir längst gelöscht, es brannte nur noch meine kleine Nachttischlampe, die früher bei Großmutter am Bett gestanden hatte. In unserem Haushalt wurde alles verwahrt, wegwerfen wäre einem Verrat gleichgekommen.
In dieser Stimmung erzählte mein Großvater von Masuren. Ich beobachtete wie sich mit jedem Kilometer, den er sich seiner Heimat näherte, seine Gesichtszüge veränderten. Alles wurde weich, die Falten, die von der Nase Richtung Mund verliefen und die Mundwinkel in die Tiefe zu ziehen schienen, begannen sich zu glätten und mir war als füllten sich seine hohlen Wangen mit den Wolkenbildern, die er mir so gerne beschrieb. Manchmal bekamen seine Augen einen seltsamen Glanz und wenn er sich verstohlen mit den Händen über das Gesicht wischte, zog ich mir die Bettdecke ganz über den Kopf. Ich konnte es nicht aushalten, ihn so zu sehen.
Oft erzählte er von seinem Freund Pawol, mit dem er gemeinsam das Dorf unsicher machte. Pawol wohnte im Hof nebenan, war drei Zentimeter kleiner als mein Großvater und hatte kurz geschorene braune Haare. Er liebte es, bei meinen Großeltern zu sein, liebte unsere Hühner, das Lachen meines Großvaters und Marieke, die Magd, die bei uns aushalf.
Abends gingen Großvater und Pawol gerne rudern auf den Spirdingsee. Dann sprachen sie über die wichtigen Dinge des Lebens oder schwiegen und genossen den Gleichklang beim Eintauchen der hölzernen Ruder. Jeder hatte ein Boot für sich und doch hatten sie das Gefühl als seien sie unwiderbringlich miteinander verbunden. Sie waren Freunde fürs Leben.
Irgendwann war Pawol verschwunden. Das gesamte Dorf suchte nach ihm, doch er tauchte nie wieder auf. Kurz danach, im Frühjahr 1945, verließ Großvater mit seinen Eltern das Gehöft mit unbekanntem Ziel. Seitdem wohnen wir in Carwitz, dort, wo Fallada sich besinnungslos betrank, um den Schmerz über seinen erschossenen Freund nicht zu spüren.
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Wunderbar zart und liebevoll erzählt, Anne, bekrönt mit einem gut gewählten Titel!
Liebe Lottegrüße
Schenke der Welt mein Lächeln,
morgen lächelt sie zurück.
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Danke liebe Lotte, ich freue mich so, wenn du meine Texte liest und kommentierst...
Liebe Grüße!
anna
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Und ich finde es atmosphärisch sehr dicht, die innige Beziehung zwischen dem LI und dem Großvater wird eindringlich spürbar. Eine gut gewählte Länge, dazu ein wunderschöner Titel. Rundum gelungen, liebes Frollein!
Sirius
Reset the World!
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Danke, lieber Sirius, das macht mir Mut, weiter zu schreiben...
Ich könnte dich umarmen...
Ännchen
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Das machst du gut, Ann.
Eine schöne Erzählung, auch mich hat der Titel gleich festgehalten.
Jonny
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Lieber Jonny,
Ich habe Brechts Gedicht „ Rudern, Gespräche“ in Prosa verwandelt, das ist dabei heraus gekommen..
Danke fürs Lesen und an meiner Seite sein!!
Ann
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