Sirius unterwegs (1)
Neulich hab ich mal frei gemacht. Einfach mal raus, mal was erleben, Hab ich mir gedacht, fahr mal mit der Bahn, da weiß man eh nicht, ob und wann und wo man ankommt, das ist noch Abenteuer pur. Das Abenteuer begann schon beim Fahrkartenkauf: Kein Schalter geöffnet, drei verschiedene Automaten, vermutlich für jeden Waggon einen anderen. Früher kamen die Züge von der Bundesbahn, ein Schalter, ein Automat, ein Zug. Heute kann sich jeder eine Lok kaufen, den Lokführerschein im Internet kaufen, eine Strecke mieten, die für die Bahn unrentabel ist – und ab geht’s.
Also erst den Fahrplan studieren, schauen, welcher Anbieter sich erbarmt, in das Heimatnest einen Zug zu entsenden, dann den passenden Fahrkartenschalter wählen, dann den Tarif wählen, bezahlen, Fahrschein entnehmen – und dann zu Fuß los!
Ja, zumindest auf dem Land ist man dann schneller am Ziel, weil nämlich die betroffenen Lokführer streiken, was sie aber leider erst in der vergangenen Nacht um 3 Uhr morgens beschlossen haben, was man wiederum erst um 9 Uhr morgens erfährt, dass der Zug um 8 nicht gefahren ist.
Wir nehmen jetzt einfach mal an, dass es mir irgendwie gelungen ist, an eine Fahrkarte zu kommen, dass ich auf dem Bahnhof nicht zusammengeschlagen wurde, dass der Zug tatsächlich kam und nicht mehr als die üblichen 20 Minuten Verspätung hatte.
Nun hält auf dem Land meistens nicht der Intercity, schon gar nicht, um vor jeder Scheune zu halten oder einen in den Nachbarort zu bringen, der nur drei Kilometer entfernt ist. Deshalb muss man manchmal mit einer Art Museumsbahn fahren, nur 2 Waggons, und eine Lok braucht man nicht, die ist irgendwo integriert, ich weiß nicht wo, aber der Zug kann fahren.
Im ersten Waggon liegen massenhaft Pakete auf dem Boden, 2 Fahrräder stehen an der Wand, eine Mutter mit einem Kinderwagen, Bauer Harms mit seinem Milcheimer, ein Förster mit seinem Hund, ein Vertreter für Melkmaschinen, eine Religionslehrerin und der Medikamentenverteiler einer Apotheke. Auf den zwei Sitzbänken stehen Koffer und Taschen.
Man stellt sich also dazu und wartet. Der zweite Waggon ist vollkommen leer, weil keiner sich traut, da rein zu gehen und sich aus der Dorfgemeinschaft auszuschließen.
Nach drei Minuten ertönt zweimal eine entsetzliche Zugsirene, weil der Zug gerade über eine schienenverlegte Weide und einen ungepflasterten und unbeschrankten landwirtschaftlichen Weg fährt. Das wiederholt sich in den nächsten 30 Minuten noch sechsmal. Der einzige Fahrgast, der das lächelnd übersteht, ist die Religionslehrerin. Die fährt die Strecke seit dreißig Jahren und ist inzwischen taub.
Ich bin aber schon nach sechs Minuten ausgestiegen, weil ich den Nachbarort erreicht habe, in dem ich in meinem ganzen Leben noch nie war.
Natürlich bin ich oft mit dem Auto durchgefahren, weil anschließend gleich die Autobahn kommt, aber dort anzuhalten, so hartgesotten und verwegen sind die Wenigsten.
Ich bin also heil angekommen und mein Abenteuer kann beginnen.
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Ja…
Als erstes bewundere ich das originalgetreue Bahnhofsgebäude aus der Pionierzeit, das völlig naturbelassen auf den nächsten Sturm wartet.
Hier also drehen die Amerikaner immer ihre Western, denke ich.
Die Bahnhofstür steht auf, vermutlich seit Jahrzehnten, weil niemand die Tür berühren mag.
In der kleinen dunklen Bahnhofshalle ist ein mit einer Jalousie verschlossener Schalter, darüber eine Uhr, die 9 Uhr 30 zeigt. Es ist aber erst 8 Uhr 30, und ich habe noch nicht gefrühstückt.
Linker Hand befindet sich eine Tür mit einer Milchglasscheibe zu einem Gastraum.
Ich murmele simsalabim, drücke die Klinke herunter und die Tür geht auf.
Ich durchquere den zehn Meter langen Gang an leeren Tischen und Stühlen vorbei, bis ich vor einem Tresen haltmache, hinter dem eine ältere Frau sich gerade den Mantel auszieht.
„Haben Sie schon geöffnet?“, frage ich.
„Nein.“
„Die Tür ist aber auf.“
„Ja.“
„Warum ist die Tür auf, wenn Sie geschlossen haben?“
„Weil hier sonst morgens kein normaler Mensch herein kommt.“
„Ich bin aber ein normaler Mensch.“
„Das sagen Sie.“
„Aber Sie sind auch hier.“
„Ich arbeite hier.“
„Sie bedienen hier?“
„Ja.“
„Würden Sie mich bedienen?“
„Nein. Wir haben noch geschlossen.“
„Und wann öffnen Sie?“
„Um zehn.“
„Kommt dann ein normaler Mensch?“
„Nein.“
„Warum öffnen Sie dann?“
“Weil ich hier arbeite.“
„Aber was arbeiten Sie denn?“
„Ich bediene die Gäste?“
„Welche Gäste?“
Die Frau schaut mich böse an.
„Was haben Sie für einen Auftrag?“
„Ich habe nur Hunger.“
„Wir öffnen um zehn.“
Ich gehe wieder und verlasse den Bahnhof durch den Ausgang zur Straße.
Rechts führt die Straße zu einer verlassenen Ziegelei, links geht es in den Ort.
Ich entscheide mich für links.
Nach zweihundert Metern komme ich an einen Kiosk vorbei mit einem geöffneten Schiebefenster. Ein Mann lehnt mit den Ellenbogen auf dem Tresen.
Ich frage, ob er geöffnet hat.
Er deutet mit dem Daumen auf eine Scheibe, auf der die Öffnungszeiten stehen.
Er öffnet um 9. Jetzt ist es 8 Uhr 45.
Ich frage ihn, ob er eine Verwandte hat, die im Bahnhof arbeitet.
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Ich gehe weiter um eine Rechtskurve und bin nun vermutlich in der City, denn ich sehe einen Rotzmann-Markt. Durch das Schaufenster kann ich eine Kassiererin erkennen, aber ich weiß inzwischen, das hat nichts zu sagen.
Ich gehe drei Stufen hinauf durch eine Ladentür – und befinde mich in einer Art Einkaufscenter: Eine Post, eine Apotheke, eine Wäscherei, ein Lottoladen, ein Frisör und daneben der Eingang zum Rotzmann. Und das alles auf etwa zwölf Quadratmeter.
Ein Mann in einem Kittel steht ganz links hinter dem Schalter „Post“ und sortiert Briefe.
Sonst ist kein Personal zu entdecken.
Ich gehe zu dem Schalter „Post“ und bitte um eine Postkarte.
Der Mann deutet auf eine Postmütze, die auf seiner Seite vor dem Schalter liegt.
„Habe ich die Mütze auf? Nein! Die Post hat noch geschlossen!“
Ich schlage mich mit der Hand vor die Stirn als Entschuldigung für meine Dummheit.
Ich gehe am Schalter „Wäscherei“ vorbei und bleibe vor dem Schalter „Apotheke“ stehen.
Der Mann im Kittel kommt sofort angerannt und fragt, was ich wünsche.
„Die Apotheke hat schon auf?“, frage ich verwundert.
„Natürlich. Was denken Sie, was ich hier mache?“
„Ich dachte, Sie sind für die Post zuständig.“
„Das bin ich auch. Und für die Wäscherei. Und für die Apotheke. Und ich schneide Ihnen die Haare.“
„Aber Sie haben eben gesagt, die Post hat noch geschlossen.“
„Die Post ja, aber die Apotheke hat auf.“
„Sie sind Apotheker und Frisör in einem?“
„Natürlich, hier ist wenig Betrieb.“
„Braucht man nicht als Apotheker eine Ausbildung?“
„Der Apotheker mit der Ausbildung ist krank. Ich mache keine medizinischen Aussagen, ich gebe nur die Medikamente raus.“
„Und das dürfen Sie als Frisör?“
„Ich bin kein Frisör, ich schneide nur die Haare. Ich bin Tankwart von Beruf.“
„Es gibt doch hier gar keine Tankstelle.“
„Früher gab es mal eine, aber die hat sich nicht rentiert. Da habe ich den Laden hier übernommen.“
„Und nun verkaufen Sie so einfach Medikamente?“
„Ach, das ist ganz harmlos. Es sind ja immer die gleichen Tabletten für die paar Leutchen, die hier wohnen.“
„Aha. Wissen Sie, ich komme aus der Stadt, da ist man noch nicht so fortschrittlich. Und eigentlich habe ich Hunger. Gibt es hier einen Bäcker?“
„Ja, im Rotzmann. Na ja, zumindest ein Brotregal. Das wird aber erst um zehn Uhr beliefert.“
„Toll, dann hat man ja schon zum Mittagessen frische Brötchen.“
„Brötchen gibt es nur zum Aufbacken. Die kommen aber erst um vierzehn Uhr mit dem Lieferanten. Ich kann Ihnen solange die Haare schneiden.“
„Was meinen Sie mit „solange“? Es ist noch nicht einmal neun?“
„Das kann schon etwas dauern, weil ich ja zwischendurch immer mal bedienen muss.“
Ich bin dann doch nicht beim Rotzmann rein.
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Ich schmeiß mich wech - herrlich, Sirius!
Ich stell mir das immer so bildlich vor und das macht es noch lustiger.
Na gut, auf zwölf Quadratmeter hat man ja auch fast alles im Blick.
Und wo gibt es also noch frische Brötchen ab 14 Uhr? Beim Frisör.
Oder eben beim Haareschneider.
Freu mich auf deine nächste Anlaufstelle...
Amüsiert, Jonny
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Herzlichen Dank, Jonny! Es ist doch toll, wenn jemand beim Lesen lachen kann!
Und ich schreibe auch nach Kopfkino nach Möglichkeit und wenn ich vorher selber lache, dann ist es gut. Ich hab allerdings auch einen trockenen Humor und bin nicht besonders zimperlich.
Ich weiß nicht, was noch kommt, aber ein Teil folgt auf jeden Fall noch. Muss nochmal gedanklich durch den Ort latschen..
Sirius
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Ach, ich liebe diese beschauliche Idylle. Ich strecke behaglich die Arme in die Luft.
Dieses Kopfsteinpflaster, dieser Geruch von Land, ein Hahn kräht, ein Hund bellt, ein kleiner Junge in kurzen Hosen und Gummistiefeln wirft mit einem Stein nach mir. Ich drohe mit dem Zeigefinger, er steckt mir die Zunge aus und sammelt noch ein paar Steine auf. Eine Mutter stürmt aus einer Haustür und zerrt den Jungen hinein: „Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst dich nicht von Fremden ansprechen lassen!“
Ah, jetzt sehe ich auch diese stillgelegte Tankstelle. An eine der Zapfsäulen ist ein Esel angebunden. Ein was? Ich gucke nochmal hin. Tatsächlich, ein Esel! Es sind nur etwa hundert Meter, und ich mag ausgedehnte Wanderungen, also mache ich mich auf den Weg.
Kurz bevor ich den Esel erreiche, kommt ein Mann aus dem ehemaligen Verkaufsladen, macht seinen Hosenstall zu und sagt: „Na, wo kommen Sie denn so plötzlich her?“
„Ich..äh..also..Ich sah den Esel von weitem und dachte..also..ich bin nur Tourist.“
„Was sind Sie? Tourist?“ Er bekommt einen Lachanfall und kann sich kaum halten. der Esel hebt und senkt den Kopf und versucht ein Wiehern, das nach Stimmbruch klingt.
„Dann sind Sie wohl bei der alten Sophie abgestiegen, was? Haha, abgestiegen ist das richtige Wort. Die hat noch keiner drei Nächte überlebt, haha.“ Und er lacht und lacht und kriegt sich gar nicht mehr ein.
„Tschuldigung, aber Sie sind der erste Tourist, den ich in meinem Leben in diesem Kaff sehe.“ Und der Esel wiehert wieder.
Ich deute auf den offenen Kofferraum seines Wagens, der etwas abseits steht und auf die geöffnete Arzttasche.
„Und Sie sind der Tierarzt, nehme ich an?“
„Nein, ich bin der Apotheker.“
„Ach, der mit der Ausbildung.“, rufe ich aus.
„Natürlich bin ich ausgebildet“, antwortet er empört, „Tierarzt bin ich nur ehrenamtlich, der rentiert sich hier nicht.“
Ein Trecker fährt heran. Ein hemdsärmeliger Bauer in Manchesterhose und Hosenträger und in Turnschuhen hievt eine Kiste Äpfel mit einer Flasche Korn obendrauf herunter und trägt sie zum ehrenamtlichen Kofferraum des Apothekers.
Er grüßt nickend und sagt im Vorbeigehen: „Und wer ist das?“
Der Apotheker fängt wieder an zu lachen, der Bauer kommt mit der Flasche Korn zurück, öffnet sie, nimmt einen großen Schluck, während der Apotheker mit ehrenamtlicher Tierarztausbildung gröhlt: „Da kommst du nie drauf! Der Mann ist Torist! Er wohnt bei der Sophie!“ Und er will sich wieder wegschmeißen vor Lachen.
Der Bauer drückt mir die Flasche in die Hand, ich wische den Flaschenhals ab und will aus Höflichkeit einen Schluck nehmen, da nimmt sie mir der Apotheker ohne Hinzusehen ab, während der Bauer sich auf die Schenkel klopft.
„Bei der Sophie, dem alten Flintenweib? Die vermietet auch noch andere Betten außer ihres?“
Ich schüttele den Kopf und sage: „Äh...“
Der Apother nimmt einen langen Schluck und drückt mir die Flasche in die Hand. Der Esel, das blöde Viech, versucht wieder zu wiehern, ich wische den Flaschenhals ab, der Apotheker läuft rot an vor Lachen und der Bauer nimmt die Flasche an sich, ohne dass ich zum Trinken kam und nimmt einen großen Schluck, bevor er mir die Flasche zurückgibt.
Ich verzichte darauf, den Flaschenhals abzuwischen, aber der Apotheker greift schon danach und dieser verdammte Esel..
Der Apotheker nimmt einen Riesenschluck und gibt mir die Flasche zurück. Aber das ist mir jetzt zu doof und ich reiche sie gleich dem Bauern. „Jo, nimm schon noch einen Zug“, entgegnet der Bauer und gibt mir die Flasche zurück.
„Die Sophie“, lacht der Apotheker und nimmt mir wieder die Flasche ab, „vermietet ihr Bett jetzt auch an Touristen, das alte Luder.“
Er nimmt wieder mit erhobenen Kopf einen großen Schluck und gibt die Flasche direkt dem Bauern, der seinerseits einen großen Schluck nimmt und sie dann mir gibt.
Er hebt die Hand zum Gruß und geht zu seinem Trecker, während der Apotheker zu seinem Wagen geht und einsteigt. Dann fahren beide davon.
Ich bleibe mit dem Esel und der Flasche alleine zurück. Ich wische den Flaschenhals ab, will einen Schluck nehmen und stelle fest, dass sie leer ist.
Nach einigen Metern macht der Trecker eine Kehrtwendung und kommt zurück.
„Jetzt hab ich doch glatt was vergessen“, lacht er.
Ich grinse auch, weil sonst nichts zu tun ist und will ihm die Flasche zurückgeben.
Er meinte aber den Esel, den er von der Zapfsäule löst und an den Trecker mit langer Leine bindet.
Dann stehe ich alleine da an einer stillgelegten Tankstelle, mit einer leeren Flasche Korn in der Hand, irgendwo in der Walachei.
Und gefrühstückt habe ich immer noch nicht.
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