Ich bin ja mit dem Fluch gesegnet, anzunehmen, ich müsse nur genug über das Universum herausfinden, um den Sinn dahinter zu erkennen. Zu Eurem Trost sei jedoch angemerkt, dass es sich bei diesem, meinem Schicksal um einen Irrtum handelt. Erstens gebe ich mir keine besonders große Mühe und zweitens funktioniert das Weltall ja weitgehendst auch ohne meine Einmischung, also warum sollte ich mir mehr Mühe geben, als für diese Ausrede vornöten?
Heute allerdings will ich etwas Positives für mein Karma tun und nach dem Sinn suchen. Ich fange direkt vor meiner Tür damit an und finde Giersch, der andere Pflanzen aus dem Rennen um Ressourcen schmeißt, einfach indem er einfach schneller ist. Als ich ihm deswegen Vorhaltungen mache, kommt die trockene Retourkutsche: „Die Natur kennt keine Moral. Moral ist ein Menschenkonstrukt.“
Ich rupfe einige dieser meterlangen unterirdischen Triebe raus und gucke gar grimmig, als er ein: „Das wirst du mir büßen.“ von sich gibt.
Bitte? Der Giersch droht mir? Jeder bewusst auf der Höhe der Zeit lebender Mensch weiß allerdings, dass Pflanzen überhaupt nicht sprechen können, und weil das so ist, kann der Giersch auch gar nicht mit mir reden, also bin ich geistig völlig gesund. Das bestätigen mir diese kleinen malvenfarbenen Elefanten, welche hinter meiner Tapete Einrad fahren, jedes Mal, wenn ich sie danach frage.
„Sei still, du hast keine Lippen. Keine Lunge ...“
„Nein, bzw. Ja! Genau! Keine Lippen. Brauche ich nicht. Ich rede nämlich gar nicht, du hörst mich nur. Du Mistkerl! Was gibt es da zu glotzen? Das ziemt sich nicht. Gottogottogott, jetzt zeigt er auch noch mit einem Finger auf mich. Sag mal, hast du denn überhaupt keine Moral?“
Ich packe meinen Zeigefinger wieder ein, hole eine Hacke und fange an den Wurzelhauptstamm freizulegen.
„Moral ist also ein Menschenkonstrukt? Und spielt sich nur in unserem Bewusstsein ab? Ja? Selber Mistkerl/kerlin!“
Und dann werde ich erhellt. Nichts Besonderes, nur ein müdes Wetterleuchten sorgt für ein bisschen stimmige Atmosphäre. Und jemand schaltet 200 Radiogeräte ein. Eine Kakophonie, bestehend aus keifenden, kreischenden, klagenden Lauten fällt mich an. Plötzlich höre ich das Gemüse lautstark lamentieren. Und das Obst jammern. Und die Radieschen beten inbrünstig darum, nicht gezwungen zu werden, in einem Supermarkt ihre Körper ausstellen zu müssen. Der Spinat äußert seine verständliche Angst vor Blubb, weil das Ausmalen der Schrecken, die einen erwarten könnten, bekannter Maßen viel schrecklicher ist, als die Schrecken höchstpersönlich, wenn sie denn doch in Echt passieren. Die Kirschen beschweren sich über die Stare, und alle finden das Wetter zu heiß/trocken/kalt/nass/doof.
Inwiefern das etwas mit dem Sinn des Lebens zu tun hat vermag ich auch nicht zu sagen, aber immerhin habe ich es wenigstens versucht.
Und als lahmen Abgang aus einer Geschichte über Existenzängste bei Pflanzen (und da sind die Umweltschäden noch gar nicht mit eingerechnet): Trivialnamen für den Giersch sind Dreiblatt, Geißfuß, Ziegenkraut, Schettele, Zaungiersch, Baumtropf. Weil die Blätter dem Hollerbusch (Holunder) ähneln, wird er auch Wiesenholler genannt. Regional sind folgende Bezeichnungen gebräuchlich: Ackerholler (Kärnten), Erdholler oder Wilder Holler (Steiermark, Nordbaden), Wilde Angelika (Ulm), Angelken (Norddithmarschen), Baumtropfe (Aargau, Bern, Zürich), Baumtröpfli (Aargau, Bern, Zürich), Cheeßeln [(ch wie in ich) Uslar, Ostfalen], Dreifuss (Daun, Eifel), Kleine wilde Engelwurz, Fearkenfaite (in der Bedeutung von „Ferkelfüsse“) (Iserlohn), Gäse (Grafschaft Mark), Gese (Grafschaft Mark), Garta (Iborig, St. Gallen), Geersch (Pommern), Geerseln (Unterweser), Geesche (Braunschweig), Geesel (Unterweser), Geeske (Ostfriesland), Geesekohl (Hümmling), Geisfüssel, Geisfuss, Gere (Berg), Gerhardskraut, Gerisch (Mark Brandenburg), Gersse, Gerzel (Altmark), Gesch (Mecklenburg), Geseln (Göttingen), Gezeln (Göttingen), Geszenkielm (Marsburg), Gierisch (Schlesien), Giers (Mecklenburg), Gierts (Mecklenburg), Giersa, Gierschke, Giersick, Giersig (Schlesien), Giesseln (Unterweser), Girsch (Ulm), Girschke, Gösch (Lübeck, Mecklenburg), Griessbart (Schlesien), Gurisch (Leipzig), Gysch, Härsch (Ostfriesland), Hasenschätteln (Memmingen), Hasenscherteln (Augsburg), Heerke (Unterweser), Heersch (Dithmarschen, Oldenburg), Herske (Ostfriesland), Hinfuss (Ulm), Hinlauf, Hirs (Mecklenburg), Jesche (Fallersleben), Jessel, Jorisquek (Hamburg), Jörsquek (Holstein), Jörs (Holstein, Lübeck), Jösk (Mecklenburg), Jürs (Mecklenburg), Kaninchenfutter oder Karnickelfutter (Erfurter Umgebung), Krafues (Kärnten), Krahhaxen (Steiermark), Maienkraut (Bern), Negenstärke, Nebensterke, Podagramskraut, Rutzitzke (Niederlausitz), Schnäggachrut (St. Gallen), Strenzel, Wasserkraut (Kärnten), Wetscherlewetsch, Witscherlenwertsch (Ulm), Wuchchrut (Appenzell, Oberrheintal), Ziegenkraut (Leipzig), Zipperleinskraut, Zipperlikraut (Bern).
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Ich lasse den Giersch meistens stehen, um nicht den von dir beschriebene Disputen ausgesetzt zu sein, und weil ich einfach gegen einen Eingriff in die Natur bin.
Und wie ich gelernt habe, ändert sich ja alles, wenn man den Dingen einen anderen Namen gibt, mit denen du deinen Beitrag ja ausreichend garniert hast.
Ich nenne den Giersch ab jetzt einfach „Wilde Angelika“ (Ulm) oder Zipperleinskraut, so wird er oft in der Literatur genannt.
Und ich wundere mich, dass man gar keinen Tee daraus machen kann, um nach dem Genuss den Sinn des Universums zu verstehen.
Da sind wohl noch Untersuchungen fällig, denn alles ist ja zu irgendwas zu gebrauchen.
Sirius
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Zipperleinskraut, das haben die Berner vollkommen richtig erkannt, ist ein Name der dem Giersch gebührt. Eignet er sich doch hervorragend zur Linderung zahlreicher Maläste. Krampfadern, Erkältungen, Verstopfung, Hexenschuss, Frühjahrsmüdigkeit, Zahnschmerzen, Gicht, Hämorrhoiden, Husten, Insektenstiche, Rheuma u. a. halten wenig vom Giersch, weil er in der Lage ist, heilend einzugreifen, wenn man ihn denn dann lässt. Giersch hat so viel Vitamin C, dass selbst die Zitrone gelb vor Neid wird und unser gelobter Grünkohl bekommt grüne Früße vergleicht man seinen Mineralstoffreichtum mit dem eines Gierschs.
Ein so begnadeter Hobbykoch wie du, Karl-Ludwig, sollte dem Giersch huldigen und ihm eine schöne Ecke im Garten reservieren, natürlich nicht ohne ihn zu bitten, sich nicht weiter auszubreiten (vorausgesetzt er spricht jetzt noch mit dir). Salate, Eintöfe und auch ein fabelhaftes Pesto lassen sich mit ihm zaubern.
Erkenntnisse über den Sinn des Universums, kann ich dir leider auch nicht liefern. Erkenntnisse über den Sinn des Gierschs können allenfalls ein Anfang sein.
Liebe Lottegrüße
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