Warum einer stürzt und der andere nicht
Während er in einem Fotoalbum blättert und sich an seinen verstorbenen Bruder erinnert, kommt dem Erzähler in Heinz Helles Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“ eine Szene aus der gemeinsamen Kindheit in den Sinn, die nebensächlich erscheinen könnte. Tatsächlich aber offenbart sich in ihr das Dilemma dieser Bruderbeziehung, wenngleich auf eine sanfte, erträgliche Weise.
Der Bruder, zwölf Jahre älter, sitzt am Klavier, der Erzähler hat es sich unter dem Esstisch gemütlich gemacht, der Vater lauscht dem Spiel des Sohnes, bis dieser abrupt abbricht, als er einen falschen Ton trifft. Er möge weiterspielen, bittet ihn der Vater, aber der Sohn kann nur paralysiert auf die Tasten starren. Der Vater schaut schweigend aus dem Fenster. Unerträglich wird die Stille, bis der Erzähler, drei oder vier Jahre alt mag er sein, aus seinem Versteck kriecht, vorsichtig zum Klavier hinübergeht, um plötzlich mit beiden Fäusten auf die Tasten zu hämmern. Und alle lachen.
Geradezu besessen
Das Verzagen des Älteren angesichts des Stockens im Klavierspiel kann der Ich-Erzähler hier noch mit Komik übertönen und auf diese Weise die Beklemmung in Belustigung verwandeln, den Bruder gleichsam erlösen. Später, als die Brüder erwachsen sind, wird das Zaudern und Zweifeln des Älteren sich in eine Krankheit zum Tode ausgewachsen haben. Kaum noch zu entzerren ist, ob die Familienkonstellation oder gar das historische Unheil selbst Auslöser des Leidens ist oder, umgekehrt, ob das Wissen um die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse nur eine Erklärung bereitstellt für den eigenen Schmerz. Geradezu besessen liest der Bruder des Erzählers in den Zeugnissen der Dutroux-Verbrechen, der Zweite Weltkrieg treibt ihn genauso um wie Zeitungsmeldungen über Unglücksfälle.
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http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bu...t-15823200.html
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