"Enteignung"
Wir können uns niemals sicher sein
Ein preiswürdiges Stück Prosa: Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt in seinem Roman "Enteignung" mit spielerischer Eleganz von gesellschaftlichen Umbrüchen.
Eine Rezension von Carsten Otte
Der Romaneinstieg ist ein kleines Schelmenstück. Reinhard Kaiser-Mühlecker spielt auf den ersten Seiten mit äußerst bekannten Motiven: Es herrscht eine unerträgliche Hitze, die müde macht, fast schon gleichgültig gegenüber den Mitmenschen, denen es nicht besser ergeht, hinzu kommt ein vom eigenen Leben gelangweilter Icherzähler. Zynisch wirkt der Kerl, ist es aber nicht. Missverstanden wird er, auch weil er sich selbst nicht ganz versteht. Der zunächst namenlose Held ist ein Waisenkind, der einzig Überlebende eines Bootsunglücks. Seine unlängst verstorbene Tante hat ihm ein Haus hinterlassen, und so ist er zurückgekehrt in die 50.000-Einwohner-Heimatstadt, irgendwo in der österreichischen Provinz.
Der Mann – früher hätte man gesagt: in den besten Jahren – wird als Fremder in allen Lebenslagen vorgestellt, und spätestens, als er von sich sagt, er habe sich noch nie verliebt, mag man an Albert Camus denken und wird sich fragen, ob es in Enteignung um eine Art Reformulierung eines literarischen Existenzialismus geht. Aber Kaiser-Mühlecker nutzt seine Romanouvertüre, um aufgebaute Erwartungen gleich wieder zu enttäuschen, um zu zeigen, dass wir Leser uns niemals sicher sein können, genau wie die merkwürdig erschöpften und zugleich herrlich widerständigen Figuren mit der fortwährenden Unsicherheit einer unwirtlichen Welt kämpfen müssen. Kaum haben wir nämlich unseren Protagonisten als Misanthropen abgestempelt, beginnt er zu flirten, wild und ungestüm, mit Frauen, die er zufällig trifft. Er wird mit ihnen auch ins Bett gehen, nicht weil er es unbedingt will, sondern weil es eben passiert, etwa mit der Lehrerin Ines: "Und dann, plötzlich, rollte sie sich auf mich und küsste mich, die Augen dabei offen, aber völlig ohne zu schauen – küsste mich, als hätte ich sie darum gebeten und sie könne es mir nicht abschlagen, als müsse es eben sein."
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https://www.zeit.de/kultur/literatur/201...uehlecker-roman
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