Warum nehmen wir die rechte Opfermentalität eigentlich so stumm hin?
Es ist gar nicht so lange her, da sind in Deutschland noch Hunderttausende gegen rechte Gewalt auf die Straße gegangen. Heute werden Nazis in Landtage gewählt – und wir freuen uns bloß, dass sie noch nicht regieren dürfen. Dabei sollten wir uns die Lage nicht schönreden, sondern endlich unsere Stimme erheben!
Anfang der 90er. Im wiedervereinigten Deutschland ereignen sich wiederholt ausländerfeindliche Anschläge, in Rostock-Lichtenhagen, in Mölln, in Solingen. Und was machen wir? Nun, im Dezember 1992 gehen in vier Großstädten – Hamburg, München, Essen, Nürnberg – insgesamt knapp eine Million Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit auf die Straße.
Ende der 10er. In drei deutschen Bundesländern wählen weit über 20 Prozent der Bürger eine Partei, die stramme Faschos in ihren Reihen hat, in den Landtag. Und was machen wir? Nun, wir freuen uns über den lächerlichen Umkehrschluss, dass sich doch immer noch drei Viertel für die Demokratie und gegen den Hass entschieden hätten. Na herzlichen Glückwunsch!
Kurz gesagt: Wir wehren uns nicht mehr. Weil wir, einerseits, die Gefahr der Erosion einer gesellschaftlichen Mitte ohne extreme rechte oder linke Tendenzen völlig unterschätzen, und andererseits, weil unsere Diskussions- und Kommunikationskultur in den letzten Jahren massiv beschädigt wurde. Grund: Die Rechten instrumentalisieren ihre Opferkultur mit bemerkenswerter Penetranz, und wir lassen uns leider davon beeindrucken.
Zwei Beispiele aus dieser Woche: "Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik", begann Björn Höcke, Sprecher der AfD in Thüringen, seine Ansprache nach der Landtagswahl, "ist eine einzelne Partei und eine einzelne Person so diffamiert worden wie wir, liebe Freunde." Mit der einzelnen Person meinte Höcke wohlgemerkt sich selbst, also jenen Höcke, der in seinem 2018 erschienenen Buch "Nie zweimal in denselben Fluss" den "Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch" beschwört, der Deutschland in einem groß angelegten Remigrationsprojekt" von "kulturfremden" Menschen säubern möchte, wobei man, so Höcke, wohl nicht um eine Politik der "wohltemperierten Grausamkeit" umhinkommen werde.
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