Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher
„Im Himmel ist die Familie vollständiger als auf Erden“. Bereits auf der ersten Seite spart Abbas Khider nicht mit in Stein gemeißelten Sätzen. Die Familie des Protagonisten Said Al-Wahid hat genug Schicksalsschläge im Irak verkraften müssen. Der Vater hingerichtet, die Schwester samt ihrer Familie bei einem Bombenattentat gestorben. „Im Irak, das weiß Said, drehen sich die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden.“ Und die nächste Wunde wartet schon. Said lebt seit vielen Jahren in Deutschland und nun liegt seine Mutter in Bagdad im Sterben. Noch während seiner Zugfahrt von Mainz – wo er an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hat – nach Berlin zu seiner Partnerin Monica und Sohn Ilias, bucht er das Flugticket in seine alte Heimat und erinnert sich mit Gedächtnisungenauigkeiten an die am Ende verheerende Zeit im Irak und die vierjährige, wirrnisreiche Flucht, bevor er in München ankam.
Dort erwartete ihn der deutsche Behördenwahnsinn, den Abbas Khider als eine unfreiwillige, aber sehr realistische Groteske beschreibt. Seinen ebenso wie die Einbürgerung hart umkämpften Reisepass trägt Said seitdem immer bei sich und kann somit auf unvorhergesehene Situationen wie den Anruf seines Bruders Hakim aus Bagdad, der ihn über den Zustand ihrer Mutter informiert hat, spontan reagieren. Obwohl seiner Freundin Monica, die er seiner Erinnerung zufolge nach einer Lesung während der „Langen Buchnacht“ in der Oranienstraße in Kreuzberg kennenlernte (Monica erinnert sich an eie andere Begebenheit), Saids Leben zwischen zwei Kulturen fremd bleibt, dient sie ihm als große Stütze für ein stabiles Leben in Deutschland.
Hierzu gehört die Erfüllung seines Traums einer Schriftstellerkarriere, die er mit mehreren Erzählungen und einem Romanprojekt innerhalb eines Jahres forciert. Leider leidet Said an einer Erinnerungsschwäche, hervorgerufen durch eine schwere Gedächtnisstörung. Doch seit er diese Erinnerungslücken mit Erfindungen füllt, „findet Said Al-Wahid das Erinnern nicht mehr anstrengend.“
Abbas Khider verdichtet die Themen Herkunft, Identität, Heimat, Krieg, Verfolgung, Flucht, Rassismus und Neuorientierung in „Der Erinnerungsfälscher“ auf knapp 130 Seiten. Seine von einem gnadenlosen Realismus geprägten Sätze treffen mit einer überwältigenden Vehemenz mitten ins Mark. Egal, ob die ältere Vergangenheit im Irak, oder die jüngere Vergangenheit in Deutschland betreffend. Der im Irak aufgewachsene und seit über 20 Jahren in Deutschland lebende Schriftsteller spielt geschickt mit den Ebenen der Realität und Fiktion und beeindruckt mit seinem fokussierten Bild auf die deutsche und irakische Gesellschaft im Wandel der Zeit.
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