Julia von Lucadous: „Tick Tack“
Leben im TikTok-Modus: Julia von Lucadous eindringlicher Gegenwartsroman „Tick Tack“.
OLIVER PFOHLMANN
Almette Odenthal ist berühmt! Naja, ein bisschen. Heutzutage muss man halt nur mit einem „Rant“-Video, also einer Wutrede auf Gott und die Welt, seinen Abgang ankündigen, sich aufs U-Bahn-Gleis legen, und wenn man wie die 15-jährige Mette das Glück hat, rechtzeitig wieder auf den Bahnsteig gezogen zu werden, schwupps, schon hat man 10 000 TikTok-Follower mehr.
Dass die ganze Aktion nur eine Kurzschlusshandlung war, aus Angst, ihre beste Freundin Yagmur an die neue coole Mitschülerin aus der Ukraine zu verlieren, muss ja keiner wissen.
Dumm ist nur, dass das neue „Fame-Level“, auf das sich die Ich-Erzählerin in Julia von Lucadous Roman „Tick Tack“ (Hanser Berlin, 256 Seiten, 23 €.) unabsichtlich katapultiert hat, nicht von Dauer ist. Was nun? Mette, hochbegabte Schülerin einer Bonner Privatschule, ist schon drauf und dran, sich eine behinderte Katze zuzulegen; einschlägige Clips gehen schließlich regelmäßig viral.
Da trifft es sich, dass sich ihr gegenüber überraschend der ältere Bruder einer Klassenkameradin, der Mittzwanziger Jo, als Fan outet. Und für sie eine perfekt Social-Media-Strategie entwickelt.
Schließlich habe die Teenagerin, die sich selbst eher einen „Wabbelkörper“ attestiert, Influencerinnen-Potenzial, ja, sogar das Zeug zu einer „Anti-Greta“.
Als „Stimme einer Bewegung“ könnte sie in den Netzwerken die allgemeine Gehirnwäsche in der herrschenden „Meinungsdiktatur“ entlarven. Vorausgesetzt freilich, sie lasse sich von ihm ein wenig Nachhilfe geben, nicht zuletzt rhetorisch. Zunächst weiß Lucadous Protagonistin nicht, was sie von dem undurchschaubaren Freak halten soll.
Die Möglichkeit, dass Jo ein Pädophiler sein könnte, schreckt die Teenagerin interessanterweise nicht sonderlich; sexuelle Belästigung ist ohnehin fester Bestandteil ihres Social-Media-Alltags. Den Ausschlag, sich auf Jos Angebot einzulassen, gibt letztlich, dass Mette von dem verkrachten, sich ihr gegenüber ganz gentlemanlike gebenden Studenten Anerkennung und Aufmerksamkeit erfährt.
Also stürzt sie sich tatsächlich für ihn in die virtuelle Schlacht. Führt zum Beispiel als tanzende „Burka Queen“ die Follower-Scharen in die Irre, um die linke „Cancel Culture“ zu demaskieren; ein Motiv, das an Mithu Sanyals Roman „Identitti" erinnert: „Die Burka Queen ist gar keine tanzende Gute-Laune-Muslimin. Stattdessen ein urdeutscher Streichkäse.“
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/julia...e/28340312.html
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