Walker Percy: Der Kinogeher
Gestatten, sein Name ist Bolling. Binx Bolling. Er ist noch keine 30, noch unverheiratet, ein Finanzmakler aus Gentilly, einem Vorort von New Orleans. Ein unauffälliges Mitglied der weißen US-Mittelschicht der späten 50er Jahre: „Ich bin Abonnent des Consumer Reports und besitze folglich einen erstklassigen Fernseher, ein (nicht gerade ruhiges) Klimagerät und ein sehr lang vorhaltendes Deodorant. Meine Achselhöhlen stinken nie.“ In einem Tresor bewahrt er seine Papiere auf, die Geburtsurkunde, das Collegediplom und seine Soldatenversicherung, er hat im Koreakrieg gekämpft. „Es ist ein Vergnügen, die Pflichten eines Bürgers zu befolgen und dafür eine Quittung oder eine saubere Kunststoffkarte mit dem eigenen Namen drauf zu kriegen, die einem sozusagen das Existenzrecht bescheinigt.“
Schon in dieser Selbstskizze, gleich zu Beginn des Romans Der Kinogeher vonWalker Percy, klingt ein dunkler Unterstrom an, etwas, das zwischen Neurose und Nihilismus changiert. Und es steckt ein Wort darin, das frontal auf das Problem des Protagonisten verweist: das „Existenzrecht“. Worum geht es im Leben, wozu sind wir hier? Es kann ja nicht sein, dass der Mensch dazu verdammt ist, im Alltagsquark – sauberes Auto, Familienfeiern, Shopping – zu versinken. Oder doch? Sollte er nicht nach Höherem streben? All diese Fragen quälen den äußerlich so aufgeräumt wirkenden Binx Bolling. Die große Sinnfrage nennt er „die Suche“: „Die Suche ist etwas, das jeder unternähme, wäre er nicht in die Alltäglichkeit seines Lebens versunken. Sich der Möglichkeit der Suche bewußt zu werden, heißt: etwas auf der Spur zu sein. Nichts auf der Spur zu sein, heißt: Verzweiflung.“
Auf seine eigene Art ist der Romanheld also ein Existenzialist, ja, er ist gewissermaßen der US-Cousin von Albert Camus‘ Meursault, dem Fremden von 1942. Man könnte sich Binx Bolling auch gut in einem Roman von Jean-Paul Sartre vorstellen, und bei Gustave Flaubert hätte er im Grunde auch schon mitspielen können. Hier die Gemeinschaft mit all ihren Regeln – dort die Freiheit des Einzelnen. Hier die Ablenkung mit Konsum und Unterhaltung – dort der ennui, die Melancholie, die Trauer über einen imaginierten Werteverlust: War früher, als es den ganzen Fortschritt und den Individualismus noch nicht gab, nicht doch alles besser? Das Hin- und Hergeworfensein zwischen diesen Polen prägte das 20. Jahrhundert, es zieht sich wie ein roter Faden durch seine Literatur. Es ist das Leiden an der Moderne – an der „flüchtigen Moderne“, wie es der polnische Philosoph Zygmunt Bauman einmal formulierte.
Die „moderne Malaise“ sei sein Thema, erklärte der Südstaatenschriftsteller Walker Percy (1916 – 1990), und die Leitfrage seiner Arbeit umriss er so: „Warum ist der Mensch im 20. Jahrhundert so traurig?“ Der Kinogeher war Percys erster Roman. Als er 1961 erschien, wurde er in den USA zu einer kleinen Sensation. Beim National Book Award 1962 schlug der Kinogeher Joseph Hellers Catch-22 undJ. D. Salingers Franny and Zooey.Bis heute führen US-Feuilletons den Kinogeher in ihren „100 Bücher, die Sie gelesen haben müssen“-Listen. Der Literaturwissenschaftler Harold Bloom nannte den Roman „a permanent American book“ in der Tradition von Mark Twain. Erst in den 80er Jahren erschien Der Kinogeher auch auf Deutsch, übersetzt von Peter Handke.
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