Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Anne Rabe beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland. Nun hat sie aus ihrer Familiengeschichte einen hervorragenden Roman gemacht.
Es ist ein ebenso kluger wie liebenswerter und nicht zuletzt humorvoll geschriebener Roman:
Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichte von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man an Zuhause denkt.
Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.
Ihr Großvater war ein überzeugter Vertreter des DDR-Systems mit einer verstörend unreflektierten Verstrickung in die bösen Machenschaften der Partei. Aber er war eben auch der liebe Opa für die Kinder. Seine Tochter wiederum erzog ihre Kinder mit fürchterlicher Strenge. Wichtigstes Ziel dieser Erziehung war offenbar, sie keinesfalls zu verziehen oder gar zu verzärteln. Wenn die Kinder Kleinigkeiten falsch machten, wurden sie geschlagen.
Ich sagte zu Tim: "Du darfst nicht weinen. Sonst freut sie sich." (…) Timmi heulte natürlich gleich los. Er war erst drei und hatte sich noch nicht so im Griff. (…) Weil er den Kopf in den Nacken legte und ihm die Tränen und die Rotze in den Rachen liefen, verschluckte er sich, was sein Weinen aber nur kurz unterbrach. Sobald er wieder Luft bekam, begann er wieder zu heulen. Erst als Mutter nachließ, hörte er damit auf. "Hast du das jetzt verstanden?" Tim nickte und lief aus dem Bad. "Putz dir die Nase!" Ich werde nicht weinen. Ich. Werde. Nicht. Weinen. Mit den Händen hielt ich mich am Waschbecken fest und stützte meinen Kopf darauf. So konnte ich mir den Mund zuhalten und aufpassen, dass ich nicht mit den Zähnen an die Keramik knallte. Davor hatte ich Angst, denn das tut fürchterlich weh. Mutter schlug. Fester. Weil ich nicht weinte. Sie schlug fester und fester. Irgendwann musste sich dieses Kind doch ergeben. Mutter schlug, bis sie nicht mehr konnte.
Es gibt auch einen Vater dazu, aber er beschützt seine Kinder nicht vor der prügelnden Mutter. Nun hat es sicherlich brutal schlagende Eltern in beiden Teilen Deutschlands gegeben, aber in der DDR reichte diese schwarze Pädagogik noch mehr in die Kinderhorte und Schulen. Schwerer Druck wurde bis in die Familien hinein ausgeübt. Wie das funktioniert, davon erzählt diese Familiengeschichte. Da wird auch eindrucksvoll ein Großvater beschrieben, den das Kind liebt und dem es schöne Stunden verdankt. Überhaupt können Kinder ja kaum aufhören, ihre Eltern und Großeltern zu lieben. Die Ich-Erzählerin will unbedingt bei ihren eigenen Kindern alles besser machen. Das ist bisweilen ziemlich anstrengend, wenn etwa die drei Jahre alte Klara vor Eifersucht auf den kleinen Bruder tobt.
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https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Die...ur,rabe450.html
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