„Niemand ist frei, bis alle frei sind“
Vom Leben in Freiheit und in Unfreiheit. Und von einem Zettel, auf den einer geschrieben hat: „Niemand ist frei, bis alle frei sind“.
Die Menschen, die frei waren, fuhren an Urlaubsorte, an denen die Kühe Vorfahrt hatten. Die Kühe standen am Straßenrand, zupften Gras, und wenn ihnen das Gras auf der anderen Seite der Straße grüner erschien, dann wechselten sie ohne zu blinken die Spur. Die Menschen in den Autos warteten gutmütig und fuhren dann ganz vorsichtig weiter. Froh, dass sie den Kühen nicht auf der Alm begegnet waren, wo man sie der schmalen Pfade wegen manchmal beiseiteschieben musste.
Soweit jedenfalls die Theorie der Einheimischen. Eine Kuh beiseiteschieben, das lag nicht allen im Blut. Auch wenn die Kühe keinerlei Anlass zur Sorge gaben. Die Kühe führten nichts Arges im Schilde.
Nicht weit entfernt von den Almen erinnerte eine Gedenkstätte daran, dass Menschen sehr wohl Arges im Schilde führten. Einige von ihnen hatten dort vor mehr als achtzig Jahren ein Höhlensystem in den Berg graben lassen, auf dem sie thronen und den schlimmsten aller Kriege planen konnten. Auch von hier hatten sie die Zerstörung des halben Kontinents und den Mord an Millionen Menschen in Auftrag gegeben. Zwischendurch hatten sie die Bevölkerung eingeladen, die Aussicht zu genießen und dem Führer mit ausgestreckten rechten Armen zu huldigen.
Davon erzählte nun die Dauerausstellung auf dem Berg. Nebenan Fotos von Menschen, die überlebt hatten, die aus Lagern, Zwangsarbeit und Folter zurückgekommen waren, stark zurückgekommen, jedenfalls wirkten sie ungebrochen. „Die Norm war der Tod, die Ausnahme das Leben“, stand als Zitat neben dem Foto einer Frau. „Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Toten“, sagte ein Mann.
Besucherinnen und Besucher der Gedenkstätte konnten auf bunten Zetteln in allen Sprachen an einer Wand hinterlassen, was ihnen Demokratie bedeute. „Alles“, schrieb jemand. „Nie wieder ist jetzt!“, schrieb jemand. Kinder malten Blumen. Gerade sei die Demokratie eine Lüge, schrieb jemand. Geliebt werden, unabhängig von der Hautfarbe, schrieb jemand. „Niemand ist frei, bis alle frei sind“, schrieb jemand in Grün auf hellblaues Papier. 178 Wochen und acht Jahre Krieg im Osten. Wer war dort frei, wo jetzt wieder und immer noch geschossen wurde? Und wer war frei, wo niemand mehr sagen konnte, ob das Spaltende bald wieder eine brüllende Mehrheit gebar?
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https://www.fr.de/kultur/timesmager/time...8-93850591.html
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