1751
In diesem Jahr erschienen die ersten beiden Bände von Diderots
Enzyklopädie. Zur selben Zeit wurde in London die erste
Irrenanstalt aufgemacht.
Damit begann die Epoche des trennens und Sortierens. Auf der einen
Seite die Gesunden, die sich mit Wörtern verschleiern. Auf der anderen
Seite die Verrückten, die sich die Federn von der Haut reissen.
Jeder Dichter musste von nun an einen Drahtseilakt beherrschen.
Und um ganz sicherzugehen, publizierten umtriebige Volkserzieher
ganze Regelwerke über normales Verhalten.
Miroslav Holub
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Immer wenn ihr kleiner Sohn böse war, bekam er mit einem großen Roggenbrot
eins übergebraten. Als er sich eines Tages wieder danebenbenahm,
knallte sie ihm einen Kuchen an den Kopf. Es war sein Geburtstag.
Paul B. Lowney
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camping
ein zelt
ein messer
drei leichen
ein kleiner junge
sucht
den papa
die mama
und seinen bruder rudi
er erbt alles
ein zelt
ein messer
drei leichen
Ernst Jandl
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Zahnweh
Das vergeht schon, das Zahnweh, sagt der Bader Prechtl.
Du nimmst ein Maul voll ganz kaltes Wasser, das nach einem Gewitter aus dem Trauffass geschöpft ist.
Nimmst also von dem ein Maul voll.
Dann nimmst ein Bund dürres Reisig und zwei Arme voll Holz; einen Arm voll fichtenes, zwei Arme voll buchenes.
Nimmst also drei Arme voll Holz.
Dann schiebst du die drei Arme voll in deinen Ofen. Nimmst ein Schwefelhölzl und zündst das Holz an.
Heizt also deinen Ofen.
Dann legst nach und legst nach, bis die Herdplatten glüht.
Bis sie also glühen.
Dann tust die Hosen runter und legst sie auf die Bank.
Auf die Bank also.
Dann tust das Hemd runter und legst es auf die Bank zu den Hosen.
Das Hemd also zu den Hosen .
Und dann setzt dich auf die Herdplatten. Tust deine Joppe hochheben, dass sie nit verbrennt.
Setzt dich also auf die Herdplatten .
Und jetzt wartst, bis das Wasser in deinem Maul anfängt zu sieden.
Wartst also.
Und wann dann das Wasser siedt, dann vergehts Zahnweh.
Georg Queri
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Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen
Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick
Gebrochen. Im Fernsehen gab ein Fernsehkoch
Den guten Rat zum Kochen.
Verwesung und Gestank im Zimmer.
Hinter Gardinen blaues Flimmern, später
Die blanken Knochen.
Nichts
Sagten Nachbarn, die ihn scheu beäugten, denn
Sie alle dachten längst dasselbe: „Ich habs
Gerochen.“
Ein Toter saß an dreizehn Wochen –
Es war ein fraglos schönes Ende.
Jahrhundertwende.
Dürs Grünbein
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Gibs auf!
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg.
Er lächelte und sagte: „ Von mir willst du den Weg erfahren?“
„Ja“, sagte ich, „ da ich ihn selbst nicht finden kann.“
„Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwung ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
Franz Kafka
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Ein schwieriger Mensch
„Ich bin nun mal ein Mensch, der keinen Widerspruch ertragen kann!“, erklärte mir dieser Widerling Karl Bröse. Ich stimmte ihm sofort leidenschaftlich zu. Da wurde Bröse fuchsteufelswild und begann, mich unflätig zu beschimpfen.
Daraus wird ersichtlich, dass Karl Bröse nicht nur keinen Widerspruch vertragen kann, sondern auch keine Zustimmung.
Johannes Conrad
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Es gibt Geschichten, die man einfach glauben will. Für Menschen mit romantischer Ader ist die von den Seepferdchen so eine: Wer hätte nicht schon gehört, dass Seepferdchen einander ein Leben lang treu bleiben? Sie verknoten ihre Schwänze, kopieren das Verhalten des Partners, sie wechseln sogar die Farbe – Seepferdchen gelten vielen als Inbegriff des glücklichen, monogamen Paares und also als Vorbild. Kommen wir nun zu dem Punkt, an dem die Zyniker heiser auflachen werden: Seepferdchen, ihr Horden naiver Allesgläubiger, sind so monogam wie Seehofer. Nämlich kein bißchen. Seepferdchen sind sowas von untreu, dass selbst notorische Fremdgänger staunen.
Im Jahre 2006 haben neun deutsche Großaquarien (nicht Großarier!) die Treue von Seepferdchen untersucht und dies herausgefunden: Die Seepferdchen verknoteteten die Schwänze wie bei Siegfried und Roy, kopierten das Verhalten des Partners, wechselten die Farbe – aber sie taten das ungerührt sowohl mit dem eigenen wie auch mit anderen Partnern.
Seepferdchen mögen possierliche Tierchen sein, eben „süß“, wie man in solchen Fällen sagt, aber ihren guten Ruf als treue Wesen haben sie völlig zu Unrecht.
Quelle: Edurad Augustin/ Phillip v. Keisenberg/ Christian Zaschke (Autoren-Trio)
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Literarisches
Ich liebe beispielsweise Goethe, aber immer und immer Goethe: nein, das wäre furchtbar!
Goethe jedoch musste dauernd Goethe schreiben, ein ganzes leben lang, jahraus, jahrein, 1749 bis 1832, fast 83 Jahre, immer und immer nur Goethe!
Das war sicher auch furchtbar für ihn. Er aber hats durchgestanden: ein großer Mann eben, nicht zu Unrecht so berühmt!
Johannes Conrad
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Marie Jeanette Kelly
Der Pub Ten Bells
in Whitechapel, Fourier Street.
Hier sieht fast alles noch so aus,
wie 1753, als man ihn eröffnet hat.
Marie Jeanette Kelly gabelte im
Ted Bells ihre Freier auf. Ihr letzter
hieß oder nannte sich: Jack.
Am 9. November 1888.
Sie wurde 25 Jahre alt.
Gerichtsmediziner brauchten
sechs Stunden, um die Reste
ihres Körpers zusammenzukratzen
und aus dem Mansardenzimmer
zu schaffen, das sie sich hatte
leisten können, weil sie noch
jung war und ganz gut verdiente.
Das einzige Foto, das von ihr
existiert, zeigt sie in unvorteilhaftem
Licht, da es erst nach dem
Mord geknipst wurde und der
Fotograf dabei gekotzt haben
soll. Jack ging Ende November
nach Polen zurück, bereute seine
Taten, trat zum Katholizismus über
und lebte als Bruder Jakob noch bis
1933 in einem Franziskanerkloster,
wo er im Garten beschäftigt war.
Darauf einen Dujardin.
Helmut Krausser
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Näher
Deine Berührung überrascht mich
wie eine Brise Meeresluft in der Stadt,
ich weiß nicht, wohin.
in den entgegengesetzten Landschaften meiner Sinne
Als bekäme man plötzlich einen salzigen Geschmack in den Mund.
beim Überqueren einer Straße, in der man seit Jahren schon lebt,
und verlöre plötzlich alles aus den Augen, worauf man zuläuft:
ein Fenster, das alles, was einem vertraut ist, eingefangen hat
und widerspiegelt, oder den Rand dieser Insel,
von dem man endlich einen Ausblick hat
Lavinia Greenlaw
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Als Chrutschtschow mal auf einem Bankett in Los Angeles war, war auch Marilyn Monroe anwesend, die er besonders lange und herzlich begrüßte. Die Monroe erzählte darüber:
„Er war fett und häßlich und hatte Warzen im Gesicht und knurrte. Wer will schon Kommunist sein bei so einem Präsidenten? Ich spürte, dass Chrutschtschow mich mochte. Als er mir vorgestellt wurde, lächelte er mehr als bei allen anderen auf diesem Bankett. Und es waren alle anderen da. Er drückte meine Hand so lang und fest, dass ich dachte, er würde sie brechen. Es war wahrscheinlich besser, als ihn küssen zu müssen.“
Quelle: Ein Paar, ein Buch, Goldmann
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Unten ohne
Das passierte in Greiz (Thüringen): Ein Straßenabschnitt, der sich unter der Irchwitzer Straße anschließt, sollte nach dem Willen einiger Bürger Untere Irchwitzer Straße genannt werden.
Der Vorschlag wurd behördlich mit dem Argument widersprochen, dass es eine Untere Irchwitzer Straße nur geben könne, wenn, logisch, eine (nicht vorhandene) Obere Irchwitzer Straße existiere.
In einem Leserbrief an die Ostthüringer Zeitung brachte ein Herr A. Becker respektlos seine Unterhose ins Spiel. Er machte sarkastisch darauf aufmerksam, dass die Unterhose zum deutschen Wortbestand gehöre, obwohl nirgendwo von Oberhosen die Rede sei. Sogar der Untertan habe, so A. Becker, trotz Obertan-Defizit nachweisbare Existenzberechtigung. Die Liste von Beispielen, die dem Behördenanspruch zuwiderlaufen, kann ergänzt werden: Es gibt Offiziere und Unteroffiziere, aber keine Oberoffiziere, Nehmerqualitäten (z.B. bei Boxern) und Unternehmerqualitäten, aber keine Obernehmerqualitäten, es gibt Grund und Untergrund, aber keinen Obergrund, Haltung und Unterhaltung, aber keine Oberhaltung.
Deshalb mein Votum: Her mit der Unteren Irchwitzer Straße!
Hansgeorg Stengel
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Sonntagnachmittag
Der Sonntagnachmittag ist die Abtreibung aller kleien Hoffnungen und nach Erfüllung drängenden Erwartungen, mit denen ich die Woche über schwanger gehe.
Obwohl ich jeden Tag Verhütung betreibe und mich mit Sarkasmus, Ironie und Realitätsbewusstsein wappne, empfange ich doch ungewollt die Hoffnung nach mehr. Dieses Mehr hat keinen Platz in dem Fahrplan des von mir mit Bedacht geregelten Alltagslebens. Es lebt während der Woche nur in meinen Träumen und den Phantasien vor dem Einschlafen.
Geht es auf das Wochenende zu, will es in dieses Leben hinaus. Und es wird abgetrieben, jeden Sonntag, ein jämmerlicher Fötus, die Toilette hinuntergespült zwischen der Sportschau und die Auslandskorrespondenten berichten.
Ich selbst töte ihn, zerschneide ihn mit dem Messer, mit dem ich den Sonntagsbraten tranchiere. Das Blutbad findet statt in der Isolation meiner Küche, wo seine Beseitigung in meinen Putzaufgabenbereich fällt.
Aus dem Wohnzimmer johlen die Männermassen: Tor.
Sabine Deitmer
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