"Eine Frau"
Wenigstens waren wir keine Wilden
In "Eine Frau" erinnert sich Annie Ernaux an ihre Mutter, die in Armut aufwuchs.
Eine Rezension von Antonia Baum
Es ist 16 Jahre her, dass Annie Ernaux’ Porträt ihrer verstorbenen Mutter unter dem Titel Das Leben einer Frau erstmals in Deutschland erschien, und damals interessierte sich dafür kaum jemand. Inzwischen aber wurde Ernaux mit Die Jahre auch hierzulande berühmt, sie gilt als eine der wichtigsten französischen Schriftstellerinnen überhaupt. Folgerichtig wurden in diesem Jahr gleich zwei ihrer Bücher von Sonja Finck neu übersetzt (und zwar besser, knapper, genauer), zwei Bücher, die unbedingt zusammengehören, weil es sich bei ihnen jeweils um eine Art Requiem handelt. Eines ist auf den Vater, das andere auf die Mutter geschrieben, in beiden Büchern versucht die Verfasserin, die "Worte, Gesten, Vorlieben" dieser beiden Menschen zusammenzutragen, um der Wahrheit ihrer Existenz möglichst nahe zu kommen.
Im Frühjahr erschien also zunächst Der Platz (1986 erstmalig unter dem Titel Das bessere Leben veröffentlicht) und ein halbes Jahr später auch das Mutter-Buch, das nun glücklicherweise nur noch Eine Frau heißt. Darin beschreibt die 1940 geborene Ernaux das Leben ihrer Mutter, die als Tochter eines Fuhrmanns und einer Weberin in "einfache" Verhältnisse geboren wird. Sie ist das vierte von sechs Kindern, es gibt überhaupt nichts, und was es gibt, muss geteilt werden, und als das Mädchen zwölf Jahre alt ist, ist die Schule vorbei. Danach Arbeit in einer Seilerei und Stolz darüber, "zivilisierter" zu sein "als die Mädchen vom Land, die immer noch wie Wilde hinter den Kühen herliefen".
Die junge Frau, die Ernaux hier in kurzen, klaren Sätzen beschreibt, ohne je zu analysieren, zu werten oder irgendwelche Metaebenen aufzumachen – diese junge Frau hat die feste Absicht, über ihr Herkunftsmilieu hinauszuwachsen, und dabei ist das Ziel ihres Aufstiegswunsches der Besitz eines Lebensmittelladens. Sie will keine Arbeiterin mehr sein, und es gelingt ihr, gemeinsam mit ihrem wortkargen, ebenfalls hart arbeitenden Mann. Aber damit ist der Traum der Protagonistin noch lange nicht fertig, zur Vollendung bringen kann ihn nur die Tochter, die zur Schule gehen und studieren soll und der insbesondere die Mutter alles zu ermöglichen versucht, selbstverständlich nicht ohne ihr genau das zum Vorwurf zu machen. Dazu schreibt Ernaux: "Ich versuche, die Wut, die überschwängliche Liebe und die Vorwürfe meiner Mutter nicht nur als individuelle Charakterzüge zu betrachten, sondern sie in ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten."
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https://www.zeit.de/2019/52/eine-frau-an...naux-erinnerung
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