"Raumfahrer" von Lukas Rietzschel
Alles auf dem Kopf
Hier die Tristesse in Sachsen, eine gesichtslose Urbanität ohne Zukunft, dort die Gebrüder Baselitz: Lukas Rietzschels starker Roman „Raumfahrer“.
OLIVER PFOHLMANN
Ein abgetakeltes Krankenhaus im ländlichen Sachsen, kurz vor der Schließung; ohne die Sanitäter aus Rumänien ginge nichts mehr. So wenig ist hier los, dass von allen Seiten schon die Natur eindringt. Eines Nachts entdeckt eine Ärztin einen jungen Hirsch auf den Gängen; er ist zwischen zwei Schiebetüren mit Bewegungsmeldern geraten, eine für das Tier ausweglose Situation.
Sobald sich eine der Türen öffnet, rennt es los, prallt aber stets gegen geschlossenes Glas. Dann in die andere Richtung, wie die Ärztin hilflos mitansehen muss, immer wieder.
Mal sind es in präziser Lakonie erzählte Szenen wie diese, mal eindringliche Detailbeobachtungen, mit denen der 27-jährige Schriftsteller Lukas Rietzschel in seinem Roman „Raumfahrer“ (München 2021, dtv, 288 Seiten, 22 €.) Atmosphäre, Verhältnisse und Tristesse seiner sächsischen Heimat einfängt.
Wie die vergilbten Unterhemden, die noch auf den Wäschestangen vor den verfallenden letzten Plattenbauten einsam im Wind vor sich hinschaukeln. Vor allem aber liefert Rietzschel beklemmende Beschreibungen einer gesichts- und geschichtslosen Urbanität ohne Zukunft, von aufgegebenen Handyhüllenläden bis zum leerstehenden Einkaufszentrum, aus dem noch eine Paintballhalle werden könnte – gäbe es im Ort nur genügend junge Leute, „um anständige Teams bilden zu können“.
Der Ort ist das heutige Kamenz im Landkreis Bautzen. Hier sorgen längst schmucke Einfamilienhäuser anstelle sozialistischer „Wohnblöcke“ für die soziale Normierung. In Vanille- oder Zitronengelb, mit geschotterten Gärten, Carports und Autos, auf die sich der Pollenstaub „wie nach einem Vulkanausbruch“ legt, Vorzeichen des nächsten Untergangs.
2018 sorgte Lukas Rietzschel mit seinem Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ für Furore. Sein im Braunkohle-Revier der Oberlausitz spielender Coming-of-Age-Roman lieferte das literarische Anschauungsmaterial für jenes ostdeutsche „Identitätsvakuum“ (Rietzschel) der Nachwendezeit, das orientierungslose Heranwachsende auf rechtsradikale Irrwege führte.
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https://www.tagesspiegel.de/kultur/raumf...f/27542680.html
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