Ist das höchste deutsche Gericht irrelevant geworden?
Das Bundesverfassungsgericht hat stets die Grundrechte verteidigt. Seit Beginn der Pandemie ist es allerdings auffallend still gewesen. Jetzt endlich stehen Entscheidungen über die deutsche Corona-Politik an. Sie werden auch über den künftigen Ruf der Karlsruher Richter entscheiden.
Als vor einem halben Jahr die sogenannte Bundesnotbremse in Deutschland in Kraft trat, erhob sich binnen weniger Wochen Protest aus dem Volk. Bis Ende Juli gingen beim Bundesverfassungsgericht Beschwerden von 8572 Antragstellern ein, darunter Opernsänger und Taxifahrer, Abgeordnete und Rechtsreferendare. Sie wandten sich gegen nächtliche Ausgangssperren sowie gegen die Schliessung von Schulen, Theatern, Restaurants und Läden. Auf das höchste Gericht des Landes war jahrzehntelang Verlass gewesen, es war ein Verteidiger der Freiheitsrechte und hatte keine Scheu, Regierung und Parlament in die Schranken zu weisen. Bis jetzt.
In der Pandemie hat sich das Bundesverfassungsgericht merkwürdig still verhalten, obwohl es vergleichbare Grundrechtseingriffe seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Das Gericht erledigte zwar einige Eilverfahren, tastete jedoch die Regelungen der Bundesregierung nicht an. Wo sind die Richter geblieben, die schon so oft die Grenzen staatlicher Eingriffe in individuelle Freiheiten abgesteckt hatten? Diese Frage stellen seit vielen Monaten immer mehr Bürger, auch öffentlich. Zumal Gerichtspräsident Stephan Harbarth direkt aus der CDU-Bundestagsfraktion erst in das höchste Gericht und dann an dessen Spitze befördert worden war, was ihm den bösen Verdacht einbrachte, Angela Merkels verlängerter Arm in Karlsruhe zu sein.
Für diesen November hat Karlsruhe angekündigt, über mehrere «ausgewählte Hauptsacheverfahren» in Sachen Bundesnotbremse zu entscheiden – ohne mündliche Verhandlung, da man Expertise von Sachverständigen schriftlich angefordert habe. Auch das ist ungewöhnlich. Wenn ein Thema umfangreich, von allgemeinem Interesse und umstritten ist, wird meistens öffentlich verhandelt. Die Sachverständigen tragen den Inhalt ihrer Gutachten dann mündlich vor, und die Öffentlichkeit kann Anteil nehmen. Und ausgerechnet in der Pandemie, im Angesicht nie da gewesener Grundrechtseinschränkungen soll in aller Stille ein Beschluss ergehen?
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https://www.nzz.ch/international/bundesv...ilen-ld.1653022
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