STEVEN UHLY: SUMME DES GANZEN
Steven Uhlys Novelle „Die Summe des Ganzen“ ist das Buch der Stunde. Sein Thema ist der Missbrauch in der katholischen Kirche. Seine beklemmend präzise Sprache fordert den Leser heraus.
Das Beichtgeheimnis besteht seit dem dreizehnten Jahrhundert und ist wohl die älteste Datenschutzvorschrift der Rechtsgeschichte. Ursprünglich ein Meilenstein in der christlichen Seelsorge, wurde sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Beichtstuhl – Ort des Sündenbekenntnisses und der Lossprechung – zum Schutzraum wurde für Täter aus den eigenen Reihen, die ebendort ihre Opfer gefügig machten. Der Oscar-Preisträger Alex Gibney rekonstruierte als einer der Ersten in seinem Dokumentarfilm „Mea Maxima Culpa“ 2012 minutiös, wie die Kirche mit Fällen von Kindesmissbrauch umging: Hauptsache, nichts wird öffentlich, Hauptsache, die Kirche nimmt keinen Schaden, Hauptsache, das Priesteramt gerät nicht in Misskredit.
Die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch Kirchenvertreter, die noch 2019 vom emeritierten Papst Benedikt relativiert wurden, hat die Institution in den vergangenen Jahren in ihren Grundfesten erschüttert – und ist die unausgesprochene Folie, auf der das neue Buch von Steven Uhly, „Die Summe des Ganzen“, zu lesen ist. Darin lernen wir einen spanischen Padre kennen, der jeden Nachmittag außer sonntags in seinem hölzernen Beichtstuhl in der Pfarrkirche von Hortaleza sitzt, einem Außenbezirk von Madrid, und auf die Sünder wartet, die ihr Herz ausschütten, um Absolution zu erhalten. Das Ritual ist für den Priester so vorhersehbar wie die Messen, Hochzeiten und Beerdigungen, die seine Tage sonst strukturieren.
Diebstahl, Vorteilsnahme oder einen Seitensprung begleicht Roque de Guzmán mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser. Die meisten Büßer kennt er persönlich, auch wenn die Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter eigentlich Anonymität gewähren soll. Nimmt Bogoño Jiménet Rodgríuez Platz, weiß der Geistliche, dass der Mann aufs Neue seine Frau geschlagen hat, José María Espíns Besuch folgt verlässlich auf einen Ehebruch, und Señora Barros verlangt nach Abbitte, wenn sie ihren Gatten wieder einmal verflucht hat, obwohl der längst unter den Toten weilt.
Auch den drei Gemeindemitgliedern, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen, gewährt der Kirchenmann Absolution. An diesem Mittwoch aber ist alles anders, als ein Fremder Guzmáns Beichtstuhl betritt und seufzt. Kaum mehr als ein paar Wortfetzen kann er hervorbringen, die jedoch bereits Schlimmstes befürchten lassen, noch ehe er den Ort fluchtartig wieder verlässt. In den folgenden Tagen wird sich der Besuch des Fremden ähnlich geheimnisvoll wiederholen und dabei nicht nur das Interesse des Priesters entfachen, sondern auch dessen eigene verdrängte Geschichte aufs Unheilvollste entzünden.
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